Der wehrhafte Riese Reto Berra, sonst cool in allen Hockey-Lebenslagen, ist nach der Partie ungewohnt aufgewühlt. In seinen Betrachtungen zum Spiel fliesst immer wieder ein Wort ein: «bitter». Ja, wahrlich: Es ist eine bittere Niederlage. Die Schweiz verliert gegen Olympiasieger Russland 0:1. Durch ein Eigentor von Enzo Corvi, 2,7 Sekunden vor Ende des ersten Drittels.
Es gibt Spielanalysen mit der Schlussfolgerung: «Besser gespielt, aber verloren.» Sie ist die Mutter aller Ausreden. Und barer Unsinn: Der Zweck des Spiels ist immer der Sieg. Wer verliert, kann also gar nicht besser gewesen sein.
Doch für einmal macht dieser Unsinn sehr wohl Sinn. Die Schweizer waren mindestens gleich gut. Wer behauptet, sie seien sogar besser gewesen, ist immer noch neutral und sachlich: Mehr Torschüsse (33:30), die klareren Chancen, mehr Stangentreffer (2:1) und mehr Tore: Die Russen schossen keines. Die Schweizer erzielten ihren Siegestreffer, der ein Eigentor war. Der Puck prallte vom Schlittschuh von Enzo Corvi ins Netz.
Nationaltrainer Patrick Fischer hatte am Vortag gesagt, die Mannschaft und er seien im Vergleich zum letzten olympischen Turnier vor vier Jahren ruhiger, gelassener, erfahrener und sicherer geworden. Und genau so ist es: Seine Spieler brauchen zwar ein ganzes Drittel, bis sie in den internationalen Rhythmus eingeloggt haben. Aber dann begegnen sie dem Olympiasieger in jeder Beziehung auf Augenhöhe. Und selbst in der Start- und Anpassungsphase halten sie problemlos mit.
Ein Spektakel wird diese Partie nie. Weil beide Teams taktisch Weltklasse sind: Sie verlieren nie Ordnung und Disziplin. Es ist Hockey als hochklassiges Schachspiel, das Coaches und Taktiker begeistert, aber den Liebhaber spektakulärer Spielzüge enttäuscht.
Was für ein Gegensatz zum Olympia-Auftakt vor vier Jahren gegen Kanada, das eine Schuhnummer kleiner war als jetzt die Russen. Noch vor Spielhälfte war damals in Südkorea mit vier Gegentreffern alles verloren und Torhüter Leonardo Genoni bereits ausgewechselt. Am Ende stand eine 1:5-Pleite, von der sich die Schweizer nicht mehr erholen sollten.
Natürlich gibt es nach dem Spiel die üblichen Fragen, woran es gefehlt habe, was man im Hinblick auf die Partie gegen Tschechien am Freitag anders machen müsse oder was man ins nächste Spiel mitnehmen könne. Sie erübrigen sich.
Die Schweizer müssen nichts anders machen. Es genügt, wenn sie ihr Spiel nur ein wenig justieren, präzisieren und noch schneller machen. In der Grundstruktur funktioniert alles. Sven Andrighettos Pfostenkracher (27.) hätte das Powerplay gekrönt. Patrice Herzogs Schuss aus spitzem Winkel an den weiter entfernten Pfosten (57.) die Aufholjagd. Es war schwieriger, den Pfosten als ins leere Netz zu treffen. Der Goalie war schon rettungslos verloren.
Offensiv nicht auf internationalem Niveau? Dann sind es die russischen Olympiasieger auch nicht. Sie haben auch kein Tor erzielt. Erst ein Eigentor hat ihnen den Sieg gebracht. Und Reto Berra zeigte eines der besten seiner 101 Länderspiele. Am Freitag gegen Tschechien wird Leonardo Genoni im Tor stehen. Sein 99. Länderspiel. Er muss sein bestes Hockey zeigen, wenn er die Nummer 1 bleiben will.
Für einmal ist die Aufgabe für die Coaches nach einer Niederlage nicht so schwierig: Einfach so weitermachen. Und da ist noch etwas: Wer so knapp und unglücklich und unverdient verliert, hat von den Hockeygöttern in der Regel später noch etwas zugute. Diese Auftaktniederlage ist deshalb so etwas wie eine Einzahlung aufs olympische Glückskonto.
Patrick Fischer kann mit seiner Mannschaft noch sehr weit kommen. Er muss nur im richtigen Augenblick etwas von diesem Glückskonto abheben.