Die erste ganz grosse Bergetappe dieser Tour de France war eine der spannendsten der letzten Jahre. Mit offenem Visier wurde gestern am Col du Calibier und am Schlussaufstieg auf den Col du Granon um Sekunden und Minuten gekämpft – und am Ende passierte das völlig Unerwartete: Der zweifache Toursieger und souveräne Leader Tadej Pogacar brach ein und musste das Maillot Jaune an den Dänen Jonas Vingegaard abtreten. 2:22 Minuten trennen die beiden Topfavoriten auf den Toursieg bereits.
Vingegaards Jumbo-Visma-Team startete einen Angriff für die Geschichts- und die Lehrbücher. Um später wertvolle Tempoarbeit zu verrichten, wurden zunächst Wout van Aert und Christoph Laporte in der Spitzengruppe platziert. Am Galibier lancierte dann Vingegaard und Primosz Roglic abwechselnde Attacken auf Pogacar, der von seiner bereits stark reduzierten UAE-Emirates Mannschaft isoliert stets alleine nachführen musste. Fünf Kilometer vor dem Ziel folgte dann der entscheidende Angriff von Vingegaard – Pogacar musste abreissen lassen und verlor bis ins Ziel 2:51 Minuten.
Ob andere Gründe wie Hitze, Dehydrierung, mangelnde Energiezufuhr oder gar eine Corona-Infektion für Pogacars Einbruch mitverantwortlich waren, darüber kann vorerst nur spekuliert werden. Pogacar selbst war im Ziel ziemlich ratlos: «Ich weiss nicht, was heute passiert ist. Am Galibier habe ich mich noch gut gefühlt. Es gab viele Attacken von Jumbo-Visma, sie waren heute sehr gut. Am Schlussanstieg hatte ich dann einfach keine guten Beine, dann war es leiden bis zum Schluss.»
Pogacar gibt sich aber kämpferisch: «Die Tour ist noch nicht vorbei», erklärte der 23-jährige Slowene. «Heute habe ich drei Minuten verloren, morgen hole ich vielleicht drei Minuten zurück.» Denn mit der Bergankunft auf der Alpe d'Huez steht heute gleich die Königsetappe auf dem Programm.
Fast 14 steile Kilometer, 21 legendäre Serpentinen, mehrere Hunderttausend euphorische Fans: Zum ersten Mal seit Ausbruch der Coronavirus-Pandemie steht die Wintersport-Station in den Alpen wieder auf dem Streckenplan. Pogacar hofft auf die grosse Revanche, die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag auf den nächsten Heimsieg. Dreimal in den letzten vier Austragungen triumphierte ein Einheimischer am berühmtesten Berg der Tour.
Legendäre Geschichten schreibt die Alpe d'Huez bereits seit 1952, einmal hatte gar ein Schweizer die Hauptrolle inne.
Die Namen der 30 Etappensieger sind in den 21 rücklaufend nummerierten Kehren auf Tafeln verewigt. Weil es irgendwann mehr Sieger als Kurven gab, tragen einige zwei Namen. In Kurve 14 steht auch der Name von Beat Breu, der 1982 bisher als einziger Schweizer zuerst im Ziel auf 1850 m ankam. Zuletzt siegte der Waliser Geraint Thomas dort 2018 – und am Ende auch die Tour.
Der erste Sieger auf dem im Schnitt 8,1 Prozent steilen Anstieg war der Italiener Fausto Coppi. Es war 1952 zugleich die erste Bergankunft in der Geschichte der Tour de France. Es sollte allerdings bis 1976 dauern, ehe die Rundfahrt wieder nach Alpe d'Huez kam. 2013 wurde der Anstieg bei der 100. Ausgabe der Grande Boucle sogar zweimal gefahren.
Der legendäre Pirat des Pelotons hält nicht nur den Rekord mit 36:50 Minuten, die er 1995 nur benötigte. Nein, Marco Pantani – später des Dopings überführt – ist gleich die drei schnellsten Zeiten gefahren. 1994 benötigte der zehn Jahre später verstorbene Italiener 37:15 Minuten und 1997 waren es 36:54.
In den Siebziger- und Achtziger-Jahren gewann nicht weniger als achtmal ein Niederländer die Etappe mit Ziel auf der Alpe d'Huez – das ist Rekord. Seit dieser Zeit ist die Bergstation auch als «Berg der Niederländer» bekannt. Nur für das Fussball-Nationalteam reisen mehr Niederländer an einen Sportanlass im Ausland. In Kurve 7, auch bekannt als «Dutch Corner», schlagen die Oranje-Fans jeweils ihre Zelte auf und sorgen für mächtig Stimmung. Seit 1989 und dem Triumph von Gert-Jan Theunisse sind die Niederländer an der L'Alpe d'Huez allerdings sieglos. (pre/sda)