Als Primoz Roglic nach der neunten Etappe der Tour de France in das gelbe Trikot eingekleidet wurde, erreichte ein Radwunder seinen vorläufigen Höhepunkt. Zwar hatte Roglic 2017 schon einmal eine Etappe der Grande Boucle gewonnen und im letzten Herbst mit der Vuelta a España als erster Slowene eine der drei grossen Landesrundfahrten gewonnen. Aber noch nie zuvor hatte ein Slowene das Maillot Jaune getragen.
Die Etappe führte von Pau nach Laruns, wo Roglic vor zwei Jahren seinen zweiten Erfolg bei der Tour de France gefeiert hatte. Diesmal hiess der Sieger nicht Roglic, sondern Tadej Pogacar. Er ist erst 21-jährig, ein Landsmann Roglics und gilt als Rad-Wunderkind. Bei der Vuelta 2019 bestritt er seine erste grosse Landesrundfahrt, gewann drei Etappen und wurde Gesamtdritter.
Als Junior war Roglic Teamweltmeister im Skispringen und gewann zwei Wettkämpfe im Continental-Cup. Nach einem schweren Sturz beendete er 2011 die Karriere und wechselte zum Radsport. «Ich wollte der beste Skispringer der Welt werden, der Traum hat sich nicht erfüllt, also musste ich etwas anderes machen», sagte Roglic nach dem Sieg bei der Spanien-Rundfahrt. Die Verwandlung vom Skispringer zum Radrundfahrer gehört zu den faszinierendsten Sportgeschichten der jüngeren Vergangenheit. Und in Roglics und Pogacars Windschatten sorgen weitere Slowenen für Aufsehen: Jan Polanc, Matej Mohoric und Sprinter Luka Mezgec. Fünf Slowenen bestreiten die Tour de France 2020 – ein Rekordwert.
Slowenien zählt zwei Millionen Einwohner, Fussball und Basketball sind die populärsten Sportarten, zur Weltspitze zählen die Skispringer, wie Roglic einer war. Dass die Alpenrepublik plötzlich im Radsport die erste Geige spielt, wird entsprechend kritisch gesehen. Und wer denn will, der findet im Radsport immer eine Verbindung, die herausragende Leistungen in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Beim slowenischen Radwunder gibt es sogar so viele Fragen, dass der Rad-Weltverband (UCI) im Vorjahr mitteilte, er und seine Anti-Doping-Einheit CADF hätten «die Aktivitäten mehrerer slowenischer Personen, darunter Fahrer, Betreuer und Mitarbeiter des Teammanagements, sorgfältig verfolgt, um mögliche Rollen in einer Reihe verschiedener Untersuchungen zu ermitteln».
Konkret ging man dieser Frage nach: Welche Rolle spielten slowenische Protagonisten in der Operation Aderlass, den Ermittlungen deutscher und österreichischer Behörden zu einem mutmasslichen Blutdopingring um den Erfurter Sportarzt Mark Schmidt? Mit Kristijan Koren und Borut Bozic wurden im Vorjahr zwei Slowenen als mutmassliche Kunden ermittelt und wurden für zwei Jahre gesperrt. Auch andere Spuren in der Aderlass-Affäre führen nach Slowenien und ins Nachbarland Kroatien. Laut UCI gründete der Verdacht gegen Sloweniens Radsport aber nicht nur auf der Operation Aderlass, sondern auch auf anderen Vorgängen. Im letzten Jahrzehnt sind tatsächlich weitere Slowenen wegen Dopings suspendiert, darunter Janez Brajkovic, früher Teamkollege von Lance Armstrong.
Seit der Ankündigung der UCI im Frühling 2019 herrscht zwar Stille, der Generalverdacht hängt wie eine dunkle Wolke über dem slowenischen Radsportwunder – und alle hoffen, dass es nur ein Donnergrollen bleibt, und sich nicht der nächste Dopingskandal Bahn bricht. Immerhin: Gegen Roglic und Pogacar gibt es bisher keine Verdachtsmomente. Aber was heisst das schon in einem Sport, in dem verdächtigt wird, wer erfolgreich ist? Wer die Verantwortlichen fragt, wie aus Slowenien der Nabel des Radsports werden konnte, erhält selbstredend andere Erklärungen. Die Kleinräumigkeit helfe, dass keine Talente durch die Maschen fielen, sagt beispielsweise Bogdan Fink zur «Süddeutschen Zeitung».
Er ist Generalmanager beim Team Adria Mobil, das in der zweithöchsten Radsportkategorie fährt, und wo Primoz Roglic vor sieben Jahren seinen ersten Vertrag erhielt, und wo ausschliesslich Slowenen unter Vertrag stehen – unter anderem auch der inzwischen 36-jährige Janez Brajkovic. Eine zentrale Rolle spielt auch Milan Erzen, der als Entdecker von Primoz Roglic gilt. Im Frühling 2019 veröffentlichte die französische Zeitung «Le Monde» eine Recherche, in der es darum ging, dass mögliche Verbindungen Erzens zur Aderlass-Affäre geprüft würden. Erzen wies den Verdacht als falsch und unbegründet zurück. Ein Verfahren wurde nie eröffnet. Und seit 2013 habe er auch nichts mehr mit slowenischen Sportlern zu tun.
Sloweniens Radsport hat jedenfalls historische Tage hinter sich, und den vielleicht grössten erst noch vor sich. Dann nämlich, wenn Primoz Roglic am 20. September tatsächlich als Gesamtsieger auf der Champs-Élysées ankommt.
Möglicherweise holt die Blutdopingaffäre den Radsport aber bald doch noch ein. Mindestens 23 Sportler und ebenso viele Betreuer, Mediziner und Helfer sollen in die Operation Aderlass verwickelt sein. Ihre Geschäfte wickelten sie über eine kroatische oder slowenische Handy-Nummer ab. Am 16. September, während der letzten Tour-Woche, beginnt der Prozess gegen den Sportarzt Mark Schmidt. Nicht auszudenken, wie gross die Eiterbeule ist, die Schmidt aufstechen könnte.