Im Fussball hat man sich daran gewöhnt, dass die Stars gefühlt immer jünger werden. Der Franzose Kylian Mbappé schoss im WM-Final als 19-Jähriger ein Tor, für den 19-jährigen Portugiesen João Felix bezahlte Atlético Madrid fast 140 Millionen Franken.
Im Strassen-Radsport ist es seltener, dass junge Athleten schon in diesem Alter für Furore sorgen. Denn um in die Leistungsbereiche vorzustossen, die für grosse Siege benötigt werden, ist üblicherweise ein jahrelanger Aufbau notwendig. Ihr Höchstleistungsalter erreichen Radprofis etwa mit 28 Jahren.
Doch 2019 scheint das Jahr zu sein, in dem die Ausnahme die Regel ist. Gleich reihenweise haben junge Fahrer, eigentlich noch unerfahrene Grünschnäbel, Erfolge gefeiert. Nirgends zeigte sich das besser als bei der Tour de France, die mit Egan Bernal ein 22-Jähriger gewann. Der Kolumbianer war der jüngste Sieger der berühmtesten Rundfahrt der Welt seit 110 Jahren. Auf einen WM-Start verzichtet Bernal, dafür greift Mathieu van der Poel an. Die Art und Weise, wie der Holländer seine Siege einfährt, macht ihn zu einem der heissesten Favoriten.
Zehn Fahrer, die 2019 für Aufsehen sorgten – und dem Radsport im nächsten Jahrzehnt den Stempel aufdrücken können:
Mit 22 Jahren ist der Kolumbianer bereits ganz zuoberst: Die Tour de France gewann Bernal in überzeugender Manier. Dabei war sein Triumph noch gar nicht für diesen Sommer vorgesehen. Bernal verpasste den Giro d'Italia, wo er Captain seines Teams hätte sein sollen, wegen eines Schlüsselbeinbruchs. Also wurde umdisponiert und Bernal entschied nach Paris – Nizza im Frühling mit der Tour de Suisse auch das unmittelbare Vorbereitungsrennen auf die Frankreich-Rundfahrt für sich.
In langen Anstiegen gibt es derzeit keinen besseren Rennfahrer als den Südamerikaner, der in der Höhe auf 2650 Metern über Meer aufwuchs. Bestimmt ein Vorteil des offiziell 60 Kilogramm schweren und 1,74 m grossen Kletterers, der auch die ansprechende Fähigkeiten im Zeitfahren mitbringt. Bernal hat beste Voraussetzungen, um die grossen Rundfahrten zu dominieren. Die WM in England bestreitet er nicht – wohl, weil ihm das hügelige Terrain zu wenig schwer ist. Der Parcours kommt Punchern besser entgegen als Fahrern, die bergauf über lange Zeit ein hohes Tempo halten können.
Wie eine Naturgewalt ist der Holländer in dieser Saison in der World Tour aufgetaucht. Fürs Geschichtsbuch war sein Sieg beim Amstel Gold Race: Van der Poel führte auf den letzten Kilometern eine Gruppe an zwei Ausreisser heran, zog dann gleich durch und gewann im Sprint. Der Wahnsinn!
Im Sommer bestritt der amtierende Radquer-Weltmeister vorwiegend Mountainbike-Rennen, wo er Europameister wurde und drei Weltcuprennen für sich entschied. Bereits hat er sich festgelegt, 2020 an den Olympischen Spielen in Tokio auf dem Mountainbike zu starten und aufs Strassenrennen zu verzichten. Mathieu van der Poel wird dort der grosse Gegner des Schweizers Nino Schurter sein.
An der WM in Yorkshire tritt das 24-jährige Multitalent als Favorit an. Dass die Form passt, zeigte Van der Poel vor zwei Wochen. Mit drei eindrücklich herausgefahrenen Etappensiegen holte er sich den Gesamtsieg der Tour of Britain. Die ansteigende Zielgerade in Harrogate kommt ihm entgegen. «Es gibt keinen wirklichen Scharfrichter, aber es ist nie flach. Und nach 250 Kilometern ist jeder Anstieg hart», so «MvdP», dem das Radsport-Talent in die Wiege gelegt wurde. Er ist der Sohn von Adrie van der Poel, der die Flandern-Rundfahrt, Lüttich–Bastogne–Lüttich und vieles mehr gewann, und der Enkel von Frankreichs Liebling Raymond Poulidor, dem siebenfachen Gesamtzweiten der Tour de France.
Wenn ein Belgier schon ganz jung so erfolgreich ist, sind Vergleiche mit dem unerreichten Eddy Merckx natürlich nie weit. Doch Remco Evenepoel tut auch alles, um seinen grossen Vorschusslorbeeren gerecht zu werden. Es ist verblüffend, wie er trotz seiner jungen Jahre auftritt. Noch erstaunlicher sind seine Leistungen angesichts der Tatsache, dass Evenepoel bis vor wenigen Jahren noch Fussballer war – der es bis in die belgische U15- und U16-Nationalmannschaft schaffte.
Im vergangenen Jahr wurde er in Innsbruck mit einer phänomenalen Aufholjagd Junioren-Weltmeister, dazu gewann er überlegen WM-Gold im Zeitfahren. Evenepoel übersprang die U23-Kategorie, wurde gleich Profi und gewann am Mittwoch WM-Silber im Zeitfahren. «Ganz sicher nicht seine letzte Medaille bei den Profis», liess sein Zimmergenosse in Yorkshire, Ex-Weltmeister Philippe Gilbert, verlauten. Evenepoel wurde Gesamtsieger der Belgien-Rundfahrt und er gewann gleich sein erstes Rennen in der World Tour, die Clasica San Sebastian. «Der Wechsel zu den Profis war eine Herausforderung, aber ich habe mehr und mehr bewiesen, dass ich meinen Platz auf dieser Stufe verdiene», sagte Evenepoel nach dem Zeitfahren.
Am Sonntag stehen Gilbert und Olympiasieger Greg van Avermaet an der Spitze der belgischen Equipe, aber Evenepoel wäre bereit, in die Bresche zu springen. «Die zwei sind in einer super Verfassung und werden gefährlich sein», sagte Evenepoel, «doch wir können viele Karten spielen.»
Erst vor wenigen Tagen feierte der Slowene seinen 21. Geburtstag. Er tat dies als Gesamtdritter der Vuelta, wo Pogacar der jüngste Fahrer auf dem Podest einer dreiwöchigen Rundfahrt seit 45 Jahren war. Gleich drei Etappen gewann er auf dem Weg nach Madrid, nachdem er im Februar die Algarve-Rundfahrt und im Mai die Kalifornien-Rundfahrt für sich entschieden hatte.
Weil er noch zu jung war, erhielt er in den USA auf dem Siegerpodest keine Champagnerflasche, sondern einen Teddybär. Mit Pogacar, Vuelta-Gesamtsieger Primoz Roglic und Ex-U23-Weltmeister Matej Mohoric stellen die Slowenen ein starkes WM-Team.
Erfreulicherweise stellt auch die Schweiz eines der grössten Talente der Gegenwart. Vor einem Jahr krönte Marc Hirschi eine herausragende Teamleistung mit dem Gewinn des WM-Titels in der U23-Kategorie. Obwohl er noch dort hätte fahren können, wechselte er auf diese Saison hin zu den Profis. Ein Schritt, der nicht zu früh kam, wie die Resultate zeigten.
Herausragendes Ergebnis war der dritte Platz bei der Clasica San Sebastian, wo er sich im Sprint um den zweiten Rang nur von Greg van Avermaet geschlagen geben musste. An der Deutschland-Tour gewann Hirschi, dem sowohl für Klassiker wie für Rundfahrten grosses Potenzial beschieden wird, die Nachwuchs-Wertung. Den ersten «richtigen» Profisieg verpasste er an der Benelux-Rundfahrt hauchdünn. Für das WM-Rennen am Sonntag ist Hirschi im sechsköpfigen Schweizer Team gemeinsam mit Stefan Küng als Captain vorgesehen. Silvan Dillier dürfte der «Joker» sein und die Routiniers Michael Albasini, Michael Schär und Danilo Wyss übernehmen Helferaufgaben.
Siwakow scheint in die Fussstapfen seiner Eltern zu treten: Schon der Vater bestritt die Tour de France und die Mutter war Weltmeisterin im Mannschaftszeitfahren. Der Russe wuchs in Frankreich auf, wo er immer noch lebt und dessen Staatsbürgerschaft er ebenfalls besitzt. Als Nachwuchsfahrer gewann Siwakow zahlreiche Rundfahrten, bei den Profis holte er sich in diesem Jahr die Gesamtsiege bei der Tour of the Alps in Norditalien und Österreich und bei der Polen-Rundfahrt. Mit einem neunten Gesamtrang am Giro d'Italia unterstrich er sein Talent.
Frankreich wartet schon seit 1985 vergeblich auf einen einheimischen Tour-de-France-Sieger. In diesem Jahr scheiterte Thibaut Pinot an der Aufgabe, Nachfolger von Bernard Hinault zu werden. Vielleicht kommt seine Chance noch einmal, vielleicht schlägt aber auch eines Tages die Stunde seines Teamkollegen David Gaudu. Obwohl er bis zu Pinots Ausscheiden Helferdienste verrichtete, fuhr er auf Rang 13 der Gesamtwertung in Paris ein. An der Tour de Romandie gewann er eine Etappe gegen hochkarätige Fluchtgefährten, wurde Gesamtfünfter und Sieger der Nachwuchswertung.
An der Tour de Suisse half Fabian Cancellara dem jungen Dänen ins Leadertrikot. Wer weiss, ob Asgreen auch so erfolgreich wird wie der Berner. Was in ihm steckt, zeigte er mit dem zweiten Platz an der Flandern-Rundfahrt, hinzu kamen Etappensiege an der Kalifornien- und der Deutschland-Rundfahrt. Der 1,92 m lange Asgreen ist ein guter Roller und Zeitfahrer – Qualitäten, die ihm für die Frühlingsklassiker zugute kommen.
Der Nachname klingt dänisch, der Vorname ist eine Referenz an den tödlich verunfallten Italiener Fabio Casartelli, doch Jakobsen ist Holländer. Und zwar amtierender Strassenmeister, den Titel gewann er im Spurt. An der Vuelta überzeugte der 23-jährige Sprinter der Zukunft mit seinen zwei ersten grossen Etappensiegen. 2018 und 2019 gewann Jakobsen den Scheldeprijs, das als «Klassiker der Sprinter» bekannt ist.
Egan Bernal ist nicht der einzige Kolumbianer, der in den nächsten Jahren dominieren kann. Sein gleichaltriger Landsmann Higuita unterschrieb erst im Mai als Profi und fuhr bei seinem ersten World-Tour-Rennen, der Kalifornien-Rundfahrt, gleich als Zweiter aufs Podest. Und bei seiner ersten grossen Rundfahrt gewann er an der Vuelta eine schwere Bergetappe.