Nach seinem Rücktritt 2018 war man sich sicher: So einen wird es nie mehr geben. Doch schon sechs Jahre später wackelt der WM-Rekord von Ole Einar Björndalen.
20 Weltmeistertitel holte der grosse Norweger in seiner Karriere, bei nun 19 WM-Goldmedaillen steht sein Nachfolger Johannes Thingnes Bö. «Das ist verrückt», sagte er im SRF zu dieser Bilanz. «Natürlich sind einige Staffeln dabei. Aber ich siege auch immer öfter in Einzelrennen.»
Das ist Understatement pur, denn seit 2015 gewann Johannes Thingnes Bö bei nun acht Weltmeisterschaften an sechs auch einen oder mehrere Einzel-Titel; insgesamt neun Stück. Fast nicht zu schlagen ist seine Bilanz von der WM 2023, als er in Oberhof bei sieben Starts sieben Medaillen gewann: fünf aus Gold, je eine aus Silber und Bronze.
Im tschechischen Nove Mesto könnte er diese Bilanz sogar noch ganz leicht steigern. Nach vier Starts steht er mit je zwei Gold- und Silbermedaillen da, noch bleiben ihm drei Rennen, die er für eine Verbesserung seiner Bilanz alle gewinnen müsste.
Johannes Thingnes Bö ist auch deshalb der Beste der Welt, weil er, noch mehr als andere Sportler, sein komplettes Leben dem Beruf unterordnet. Der Vater eines vierjährigen Sohns ist nicht der allerbeste, aber ein sehr guter und zudem schneller Schütze, und auf der Loipe ist gegen ihn oft kein Kraut gewachsen. Alleine die vielen Siege belegen: Kein anderer beherrscht die Kombination aus Laufen und Schiessen so gut wie er.
Längst hat Johannes mit seinen Erfolgen den fünf Jahre älteren Bruder Tarjei überflügelt. Dabei ist der ebenfalls ein ausserordentlicher Biathlet, in der ewigen Bestenliste der Weltcupsiege belegt er Rang 11. In der Saison 2010/11 gewann Tarjei Bö schon als 22-Jähriger den Gesamtweltcup. Mit der Staffel war er da bereits Olympiasieger, bis heute sollten 11 WM-Titel und total 31 WM- und Olympia-Medaillen folgen.
Und trotzdem steht der ältere Bruder oft im Schatten des jüngeren. Symptomatisch das WM-Rennen im Einzel über 20 Kilometer am Mittwochabend, in dem sie beide auf dem «Bödest» standen: Johannes gewann Gold, Tarjei Silber. Immer wieder machten Krankheiten Tarjei Bö einen Strich durch die Rechnung, so dass er zwar punktuell glänzen konnte, aber nie mehr die Konstanz erlangte, die ihn zum Gesamtweltcupsieger machte.
Und so wurde die Prophezeiung wahr, die er 2011 nach seinen ersten drei WM-Titeln machte. «Es gibt noch einen Besseren: meinen jüngeren Bruder Johannes», sagte Tarjei damals über den Teenager. «Da hab ich schon Schiss, wenn er mal weltcuptauglich ist. Der ist wirklich gut!» Solche Prognosen sind nicht selten, doch selten werden sie erfüllt.
Johannes Thingnes Bö schickte sich an, die Sportart zu dominieren. Und Tarjei Bö gelang es, im Herbst der Karriere noch einmal aufzublühen. 2021 gewann er die Disziplinenwertung im Massenstart, 2022 jene im Einzel. In diesem Winter ist er Führender der Sprint-Wertung und belegt Rang 3 im Gesamtweltcup, den die Norweger gleich zu sechst anführen. Ganz vorne ist Johannes Thingnes Bö, der die grosse Kristallkugel bereits vier Mal gewinnen konnte.
«Ohne meinen Bruder wäre ich kein Biathlet geworden», betonte Johannes vor dieser WM in der norwegischen Zeitung «Verdens Gang». Zu Beginn des Gymnasiums liebäugelte er auch mit einer Karriere als Fussballer. Tarjeis frühe Erfolge erleichterten ihm die Entscheidung. Zum Einwand des Journalisten an die Adresse von Tarjei, was er da bloss angerichtet habe, meinte er: «Ja, ich habe ein Monster erschaffen. Er sollte den Löwenanteil der Anerkennung bekommen, aber etwa fünf Prozent sollte er mir abgeben», scherzte Tarjei Bö.
Der 35-Jährige liess zuletzt offen, ob dieser Winter seine letzte Saison sein wird. Bruder Johannes Thingnes Bö, 30 Jahre alt, hat bereits angekündigt, dass er bis zu den Olympischen Spielen 2026 in Cortina/Mailand weitermachen will.
«Er hat mich und ich habe ihn, diese Brüderkraft ist für uns beide ein Schlüssel zum Erfolg», sagten sie in der gemeinsamen Biographie. Die beiden Brüder verstehen sich bestens. So dass Tarjei ihn damit aufzog, er hoffe, dass er mindestens ein Jahr vor Johannes in Sportler-Rente gehe: «Damit ich in den Sommerferien und über Weihnachten ausschlafen und Süsses essen kann, während er sich zu Tode schuften muss.»
Tarjei hat heute Pause. Für Johannes geht die Biathlon-WM am Abend (18.00 Uhr, SRF 2) weiter, in der Single-Mixed-Staffel gemeinsam mit Ingrid Landmark Tandrevold ist er Favorit auf Gold. In der Staffel am Samstag, gemeinsam mit dem Bruder, wäre alles ausser einem norwegischen Triumph eine faustdicke Sensation und am Sonntag im Massenstart bietet sich Johannes Thingnes Bö die letzte Gelegenheit in Nove Mesto, um den grossen Ole Einar Björndalen in Sachen WM-Titeln zu überholen.