Das Geschäft mit der Medikamentenentwicklung birgt viel Potenzial für Überraschungen, nicht selten auch negative. Die im laufenden Jahr von Novartis vollzogene Übernahme der deutschen Biotechfirma Morphosys ist ein krasses Beispiel dafür.
Am 11. April unterbreitete der Basler Multi den Aktionären von Morphosys ein verbindliches Übernahmeangebot im Wert von 2,7 Milliarden Euro oder fast 3 Milliarden Dollar. Den Managern der 1992 in Planegg bei München gegründeten Biotechfirma winkten Abgangsentschädigungen in Millionenhöhe und den Aktionären eine Kursverdoppelung.
Im Prinzip ist das «business as usual» in einer Branche, in der die grossen Konzerne Innovationen und Ideen für neue, erfolgversprechende Medikamente oft und immer öfters bei kleinen Forschungsfirmen einkaufen, um sich selbst auf deren Vermarktung zu konzentrieren.
Normal ist auch, dass solche Zukäufe den Erwartungen der Käufer oft nicht gerecht werden. Nicht selten kommt es vor, dass Moleküle in den letzten klinischen Versuchen den erhofften Wirkungsgrad nicht erreichen oder dass plötzlich schwere Nebenwirkungen auftreten.
Sehr ungewöhnlich ist im vorliegenden Fall aber, wie schnell nach der Übernahme schon die grosse Ernüchterung kam. Den Wert des ehemaligen Start-ups, dessen Übernahme erst Anfang August definitiv abgeschlossen wurde, musste Novartis schon auf den nächsten Bilanzstichtag Ende September um 800 Millionen Dollar abschreiben. Wie geht das?
Morphosys hat eine Therapie entwickelt, die geeignet sein soll, eine krankhafte Gewebebildung im Knochenmark zu stoppen und zum Teil sogar rückgängig zu machen. Die Krankheit wird Myelofibrose genannt. Sie führt zu einer Verdrängung der Blutstammzellen im Knochenmark mit Blutarmut und andern negativen Folgen.
Die Therapie von Morphosys basiert auf einer Kombination des erprobten Moleküls Ruxolitinib mit dem neuen Hauptwirkstoff Pelabresib. Letzterer könnte der Grund gewesen sein, dass 6 von den 212 zwischen April und November 2023 mit Pelabresib getesteten Patienten eine akute Leukämie entwickelt haben. Diese ist im Unterschied zu der oft träge verlaufenden Myelofibrose direkt lebensgefährdend.
Novartis-Chef Vasant Narasimhan räumte am Samstag in einem Interview mit «Finanz und Wirtschaft» denn auch ein:
Narasimhan sagte auch, die Sicherheitsrisiken seien damals noch nicht vorhersehbar gewesen. Auffallend ist dennoch, dass die Sicherheitsrisiken zeitlich in nächster Nähe zum Start des Übernahmeprozesses bekannt geworden waren. So berichtete zum Beispiel schon Ende April das amerikanische Fachmagazin «Stat+» unter Verweis auf vertrauliche Gespräche mit Ärzten über die 6 Leukämie-Fälle. Das Onlinemagazin wusste auch bereits von einem Warnschreiben, das die US-Medikamentenzulassungsbehörde FDA an alle in den klinischen Test des neuen Morphosys-Medikamentes einbezogenen Ärzte abgesetzt habe.
In Ermangelung anderer Fakten und Beweise gilt selbstverständlich Narasimhans Darstellung, dass die Risiken nicht vorhersehbar waren und solche Rückschläge «nicht ungewöhnlich» seien. Doch Zweifel bleiben bestehen. Die US-Bank Goldman Sachs sprach im Zusammenhang von Morphosys von einer «Enttäuschung», welche geeignet sei, die Akquisitionsstrategie von Novartis infrage zu stellen.
Der Fall Morphosys zeigt in dem am 11. April veröffentlichten Angebotsprospekt aber auch exemplarisch und detailliert, wie viel Druck im Vorfeld einer solchen Übernahme erzeugt wird. In dem Dokument ist nachzulesen, wie zwei hochrangige Vertreterinnen von Morphosys und Novartis am 22. Dezember 2023 ein Treffen zwischen den CEOs der beiden Firmen an einem wichtigen Branchentreffen Anfang Januar in San Francisco anbahnen.
Die Morphosys-Managerin sagt in dieser Planungsbesprechung, Novartis könnte die Kaufgelegenheit verpassen, wenn die gut zwei Wochen bis zu dem Branchentreffen abgewartet würden. Man erwarte, in naher Zukunft den Entwurf einer Transaktionsvereinbarung von einer dritten Partei zu erhalten, sagt sie auf Nachfragen der Novartis-Managerin.
Dieser Druck wird hochgehalten, und er führt dazu, dass Novartis schon am 3. Januar, also vor dem Zusammentreffen der beiden CEOs, ein erstes unverbindliches Angebot unterbreitete. Als sich die CEOs am 8. Januar in San Francisco doch noch trafen, war der Deal schon fast perfekt. Die Unterbreitung der verbindlichen Kaufofferte erfolgte am 15. Januar.
Der Vorgang zeigt, wie teuer kleine Biotechfirmen ihre Haut zu Markte tragen können, wenn grosse Pharmaunternehmen gezwungen sind, Übernahmen zu tätigen, um das eigene Wachstum zu fördern. Pikantes Detail: Simon Moroney, seit 2020 im Novartis-Verwaltungsrat und seit 2022 dessen Vizepräsident, gehört zu den Gründern von Morphosys und er war von 1992 bis 2019 deren CEO. Auf die Frage von CH Media, welche Rolle Moroney im Rahmen der Übernahme spielte, antwortete Novartis: «Morphosys ist nun Teil von Novartis und die Integrationsaktivitäten laufen. Novartis äussert sich nicht zu den individuellen Rollen bei Finanztransaktionen.»