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Warum explodieren die Fallzahlen? Drosten hat es schon im April erklärt

Die Todesraten der Städte New York, London, Paris und Berlin der zweiten Welle der Spanischen Grippe.
Die Todesraten der Städte New York, London, Paris und Berlin der zweiten Welle der Spanischen Grippe.Bild: collage von watson mit Material von Wikipedia.

Du wunderst dich, warum die Fallzahlen explodieren? Drosten hat es schon im April erklärt

16.10.2020, 19:0418.10.2020, 14:24
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Die Corona-Fälle in der Schweiz steigen rasant. Am Freitag wurden 3105 neue Fälle gemeldet. Betroffen ist das ganze Land. Während im Frühling einzelne Regionen mehr oder weniger verschont blieben, trifft es nun alle.

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Rudolf Hauri, der Präsident der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte, sagte heute an der heutigen Pressekonferenz in Bern, dass viele Ansteckungen im Amateursport und im Kreis der Familien passieren würden. Es bildeten sich viele kleine Cluster, die zu immer grösseren Fallzahlen führen. «Kleinvieh macht auch Mist», so Hauri.

Ganz unerwartet kommt diese Entwicklung nicht. Bereits im April* warnte der deutsche Virologe Christian Drosten im einflussreichen Podcast des NDR vor einer zweiten Welle, die schlimmer ausfallen könnte als die erste.

Weshalb die Fälle in der zweiten Welle explodieren

Der Institutionsleiter der Berliner Charité verweist auf das Beispiel der Spanischen Grippe, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen 35 und 100 Millionen Menschenleben forderte, einen Grossteil davon während der zweiten Welle.

ARCHIV - 23.01.2020, Berlin: Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin, steht im Institut für Virologie an der Charité Berlin Mitte, in dem Untersuchungen zum Co ...
Christian Drosten leitet das virologische Institut an der Charité Berlin Mitte.Bild: DPA

Die erste Welle der Spanischen Grippe begann Ende Juni 1918 und dauerte ca. einen Monat.

Die erste der drei Wellen der spanischen Grippe in Grossbritannien. Sie war noch die harmloseste.
Die erste der drei Wellen der spanischen Grippe in Grossbritannien. Sie war noch die harmloseste.
«Die [Spanischen Grippe] trat nicht in allen Orten auf, sondern die war lokal extrem ungleich verteilt. Die war hie und da auffällig, anderswo hat man gar nichts davon bemerkt ...»
christian drosten im Podcast «Corona virus update» des NDR

Bereits damals wurden Ausgangssperren verhängt und das Grippevirus schien in den Sommermonaten sowas wie eingedämmt. Drosten vermutet einen saisonalen Effekt. Die warmen Sommermonate verschleierten die eigentliche Problematik: Aus den einzelnen lokalen intensiven Brandherden wurde ein grossflächiger Schwelbrand:

In den Sommermonaten schien die Spanische Grippe unter Kontrolle.
In den Sommermonaten schien die Spanische Grippe unter Kontrolle.bild Wikipedia
«Und unter der Decke dieses saisonalen Effektes ... hat sich diese Erkrankung aber unbemerkt viel besser gleichmässig geografisch verteilt.»

Der deutsche Virologe verglich den saisonalen Effekt von damals mit den heutigen Distanzierungsmassnahmen. Das Virus kann sich so von den einzelnen neuralgischen Gebieten fast unbemerkt gleichmässig geographisch verteilen.

Die zweite Welle der Spanischen Grippe forderte ungleich mehr Todesopfer als die erste.
Die zweite Welle der Spanischen Grippe forderte ungleich mehr Todesopfer als die erste.bild: wikipedia

Als die spanische Grippe im Herbst 1918 erneut ausbrach, traf es nicht mehr nur die neuralgischen Gebiete, das Virus trat grossflächig auf. Aus dem Schwelbrand wurde ein Flächenbrand. Einen ähnlichen Ablauf konnte sich Drosten bereits im April für die Verbreitung des Coronavirus im Sommer vorstellen.

«Wir werden, wenn es in den Winter reingeht, in einer anderen Situation sein. Wir hätten dann nicht mehr das Ungleichgewicht zwischen einzelnen kleinen Orten.»
christian drosten beim NDR

Die zweite Welle der Spanischen Grippe begann Anfang Oktober und endete erst Mitte Januar. Die Todesrate betrug phasenweise das Fünffache der ersten Welle. Auch die dritte Welle, die vom Februar 1919 bis Mitte April dauerte, wütete noch einiges heftiger als der erste Ausbruch.

Die dritte Welle Anfang 1919.
Die dritte Welle Anfang 1919.bild: wikipedia

Drosten schlug im Frühling aber auch beruhigende Worte an. Er wollte keine Panik schüren.

«Ich will jetzt gar nicht so ein starkes Plädoyer abgeben hier, aber ich will schon sagen, es laufen im Hintergrund Veränderungen von so einer Epidemie, die man auch miteinberechnen muss.»
christian drosten beim NDR

Wie die aktuellen Zahlen zeigen, dürfte Drosten mit seiner Prognose nicht ganz unrecht gehabt haben. Ob die zweite Welle tödlicher als die erste sein wird, lässt sich indes noch nicht sagen.

(cma/tog)

*Wir haben diesen Artikel im April in ähnlicher Form schon einmal veröffentlicht. Aus aktuellem Anlass haben wir ihn aktualisiert und erneut publiziert.

Coronavirus – Verbreitung durch Husten

Video: watson/linda beciri
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116 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Sirup
16.10.2020 19:13registriert Februar 2017
Und die Deppen demonstrieren weiter - Denn sie sind nicht fähig zu begreifen was vor sich geht.

Mein Beileid.

Unser Bildungssystem hat anscheinend komplett versagt.
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Pukelsheim
16.10.2020 19:08registriert Januar 2017
Ist fast so, als ob der Mann ein absoluter Experte auf seinem Gebiet ist 😉 Hoffentlich wirken die Massnahmen. Überlaufene Spitäler kann sich kein Land leisten.
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ingmarbergman
16.10.2020 19:24registriert August 2017
Was bei der Spanischen Grippe häufig ignoriert wird: Im Herbst 1918 war der erste Weltkrieg zu Ende. Innert kürzester Zeit wurden Millionen Soldaten demobilisiert und gingen nach Hause. Das befeuerte die Verbreitung enorm. Ausserdem war ganz Europa nach 4 Jahren Krieg und Rationierung extrem geschwächt, was die Todesrate befeuerte.
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Darum überleben Bärtierchen eine tausendmal stärkere Strahlung als wir

Bärtierchen (Tardigrada) sind winzig. Und sie sind wahre Überlebenskünstler. Die kleinen achtbeinigen Tierchen können in der Kryptobiose – das ist ein todesähnlicher Zustand, in dem die Stoffwechselvorgänge zum Erliegen kommen – extremste Umweltbedingungen aushalten. Sie überstehen kurzzeitig Extrem-Temperaturen von –200 und +150 °C. Und sie sind die einzige Tierart, die im absolut lebensfeindlichen Weltraum zumindest eine Zeitlang überleben kann.

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