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Du willst nur das Beste? Voilà:
Die Atomenergie
sorgt wieder einmal für Schlagzeilen. Vor genau fünf Jahren
ereignete sich vor der japanischen Küste das schwere Seebeben, das
einen Tsunami und die Katastrophe im AKW Fukushima Daiichi zur Folge
hatte. Diese Woche gelangte zudem ein Strategiepapier an die
Öffentlichkeit, das eine PR-Firma im Auftrag des Stromkonzerns Alpiq
erstellt hat. Demnach sollen die schweizerischen Atomkraftwerke an
eine staatliche Auffanggesellschaft ausgelagert werden.
Nach dem
Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 ging bei der Atomenergie lange
nichts mehr. Vor einigen Jahren jedoch wurde ihr ein Comeback
prophezeit. Die CO2-freie Stromproduktion aus
Kernkraftwerken wurde als Wundermittel gegen den Klimawandel
propagiert. Die Gefahren der Technologie rückten in den Hintergrund.
In diversen Ländern wurden neue Projekte lanciert. So auch in der
Schweiz. 2008 präsentierte der Energiekonzern Atel – eine
Vorgängerin von Alpiq – Pläne für einen neuen Reaktor auf dem
Gelände des AKW Gösgen.
Sie dürften
Makulatur bleiben. Nach Fukushima forcierte Bundesrätin Doris
Leuthard ihre Energiestrategie 2050. Sie sieht den Ausstieg aus der
Atomenergie vor, neue Projekte sollen keine Bewilligung erhalten.
National- und Ständerat haben beide Punkte abgesegnet. Deutschland
will bis 2020 sämtliche Meiler vom Netz nehmen. Andernorts hingegen
wird weiter gebaut, vor allem in China. Ist die Kernenergie also ein
Auslaufmodell, oder hat sie ihre Zukunft noch vor sich?
Der frühere Basler
SP-Nationalrat Rudolf Rechsteiner hat eine dezidierte Meinung: «Die Atomenergie hat in keiner Weise eine Zukunft. Sie wird uns in Form von Altlasten und hohen Entsorgungskosten aber noch lange beschäftigen.» Bei den meisten
Bauprojekten handle es sich um Ankündigungen, die nie ausgeführt
würden. China sei eine Ausnahme, doch selbst dort erlebten Wind- und
Solarenergie einen stärkeren Aufschwung, sagt Rechsteiner.
Tatsächlich werden Wind- und Solaranlagen laufend billiger, während
es bei neuen AKW zu massiven Kostenüberschreitungen kommt.
Als Energieexperte
propagierte Rechsteiner die Stromerzeugung durch Wind und Sonne
bereits zu einer Zeit, als man dafür belächelt wurde. Heute führt
er ein eigenes Beratungsbüro. Er mag nicht ganz unbefangen sein,
doch die Fakten sprechen für ihn. Hinter dem Bau neuer
Atomkraftwerke stecken meist nicht wirtschaftliche, sondern
politische Motive. So in China, Indien oder Russland. Oder es geht um
einen «Nebeneffekt»: Die Atombombe. Als Beispiele nennt
Rechsteiner Iran, Saudi-Arabien und Ägypten – Länder mit besten
Voraussetzungen für Solarenergie.
Andernorts hingegen
häufen sich die Probleme:
Die mit der
Strombranche verbandelte Regierung will trotz Fukushima an der
Kernenergie festhalten. Nach der Katastrophe wurden alle 48 Reaktoren
heruntergefahren. Nur gerade vier sind seither wieder ans Netz
gegangen, mehrere sollen stillgelegt werden. Die japanische
Bevölkerung ist heute mehrheitlich gegen die Atomenergie.
2010 verkündete die
Regierung den Ausstieg aus dem Atomausstieg, den das Stimmvolk 1980
beschlossen hatte. Heute ist davon keine Rede mehr, sondern nur noch
von der Abschaltung von Reaktoren. Bis 2020 sollen vier vom Netz
genommen werden. In Skandinavien herrscht wie im übrigen Europa ein
Stromüberschuss mit tiefen Preisen. Atomstrom rentiert nicht mehr.
Anders als im
Nachbarland will die Regierung die Atomkraft ausbauen, um die
Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu senken. Bislang
allerdings gibt es nur Probleme. Im AKW Olkiluoto begann der
französische Konzern Areva 2005 mit dem Bau eines dritten
Reaktorblocks. Er sollte 2009 in Betrieb gehen. Inzwischen ist die
Rede von 2018. Die Kosten sind aus dem Ruder gelaufen, der Bau eines
vierten Reaktors wurde 2015 abgeblasen. Ein weiteres neues AKW soll
ausgerechnet von einer russischen Firma gebaut werden und ist
entsprechend umstritten.
Mit 75 Prozent
Anteil an der Stromversorgung ist Frankreich das AKW-Land par
excellence. Die Schweizer Strombranche machte jahrelang glänzende
Geschäfte mit der «Umwandlung» von billigem französischem
Atomstrom in teure einheimische Wasserkraft. Die goldenen Zeiten aber
sind vorbei. Dafür stehen nicht nur die Probleme im ältesten
französischen Reaktor in Fessenheim unweit von Basel, wo es 2013
beinahe zum GAU gekommen wäre. Der einstige Vorzeigekonzern
Areva etwa ist ein Sanierungsfall.
2015 hat die
Regierung beschlossen, den Anteil des Atomstroms von 75 auf 50
Prozent zu senken. Für negative Schlagzeilen sorgt auch der Bau des
Europäischen Druckwasserreaktors (EPR) in Flamanville an der
Kanalküste. Er sollte zu einem Exportschlager werden und könnte
stattdessen «das Ende der Nuklearentwicklung Made in France
einläuten», so das deutsche «Handelsblatt». Die Bauarbeiten
sind um Jahre in Verzug, die Kosten haben sich auf neun
Milliarden Euro verdreifacht, und zuletzt wurden schwere Mängel am
Reaktordruckbehälter entdeckt.
Die damalige
Labour-Regierung genehmigte 2008 den Bau von vier neuen
Atomkraftwerken. Doch auch mit diesen Plänen gibt es fast nur Ärger.
Der staatlich kontrollierte französische Energieriese EDF will beim
bestehenden AKW Hinkley Point zwei EPR-Reaktoren bauen, verlangt
dafür aber einen fixen Abnahmepreis von rund 13 Rappen pro
Kilowattstunde. Der Marktpreis für Strom beträgt derzeit drei bis
vier Rappen. Ein durchaus atomfreundlicher Gastbeitrag in der «Financial Times» fordert die heutige konservative Regierung zu
einem Stopp des Projekts auf.
In den Vereinigten
Staaten sind 100 Atomreaktoren in Betrieb, so viele wie in keinem
anderen Land. Die Regierung Obama wollte die Kernenergie
weiter ausbauen, als Massnahme gegen den Klimawandel. Davon ist heute
keine Rede mehr. Fünf Reaktoren sind in Bau oder geplant, ob sie je
vollendet werden, ist unklar. Das billige Schiefergas setzt dem
Atomstrom zu, und auch die Solarenergie erlebt einen Boom, wie das
Newsportal Vox schreibt.
Hinzu kommen
Sicherheitsprobleme: Die staatliche Aufsichtsbehörde NRC stellte den
AKW zuletzt ein gutes Zeugnis aus. Zu ganz anderen Schlüssen kamen
sieben Ingenieure, die für die NRC arbeiten. Sie gingen
mit einem Bericht an die Öffentlichkeit, wonach in 99 der 100
US-Reaktoren Sicherheitsmängel vorhanden sind. Die Agentur Bloomberg
kam vor einem Jahr zu einem ziemlich ernüchternden Schluss: Die
Kernenergie sei in den USA «praktisch tot».
Von einer
Renaissance des Atomstroms kann somit zumindest in den westlichen
Industrieländern keine Rede sein. Und die Perspektiven sind
angesichts der Fortschritte bei den erneuerbaren Energien kaum
erfreulicher. Nicht nur werden sie laufend billiger. Rudolf
Rechsteiner erwähnt als weiteren Vorteil den Zeitfaktor: «Eine Wind- oder Solaranlage ist in kurzer Zeit erstellt, im Gegensatz zu Atomkraftwerken. Selbst Erdgas kann da nicht mithalten.»
Die Hoffnungen der
AKW-Befürworter richten sich deshalb auf Kraftwerke der vierten
Generation. Sie sollen sicherer sein und erst noch weniger Abfall
produzieren. Selbst das Bundesamt für Energie (BFE) sieht hier ein
Potenzial. Ganz im Gegensatz zu Alt-Nationalrat Rechsteiner: «Alle forschen ein wenig herum, aber niemand entwickelt diese Technologie, es fehlt das Geld für eine industrielle Dimension.» Er erinnert an andere vermeintliche Durchbrüche, die sich als
Totgeburten entpuppt haben, etwa den Schnellen Brüter.
Es ist definitiv zu
früh, das Ende des Atomzeitalters auszurufen. Und doch spricht fast
alles dafür, dass die Technologie ein Auslaufmodell ist. Eines
allerdings, das uns noch sehr lange beschäftigen wird. Die
Entsorgung der AKW ist langwierig und teuer. Bis die Ruine in
Fukushima beseitigt ist, sollen nicht wie ursprünglich angenommen
40, sondern 70 Jahre vergehen. Vom in den meisten Ländern ungelösten Abfallproblem ganz zu schweigen.