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Neurotensin – der Stoff, der für schöne Erinnerungen sorgt

Glücklich - Depressiv (Symbolbild)
Erinnerungen sind mit positiven oder negativen Emotionen verknüpft. Ein Forschungsteam ist dem biochemischen Mechanismus dahinter auf der Spur. Bild: Shutterstock

Der Stoff, der für schöne Erinnerungen sorgt – was Neurotensin in deinem Hirn macht

26.07.2022, 14:1127.07.2022, 09:34
Daniel Huber
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Erinnerungen sind eine komplexe Angelegenheit. Es kann vorkommen, dass wir uns an Begebenheiten erinnern, die sich gar nie so ereignet haben. Wie trügerisch Erinnerungen aber auch sein mögen, meist sind sie emotional aufgeladen: Wir haben ein gutes oder schlechtes Gefühl, wenn wir uns erinnern.

Wie aber kommt es dazu, dass unser Gehirn eine Erfahrung als positiv oder negativ abspeichert? Und warum speichern manche Leute eher negative als positive Emotionen ab – wie es etwa bei Depressionen, Angstzuständen oder posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) vorkommen kann?

«Wir verstehen jetzt den grundlegenden biologischen Prozess besser, wie man sich erinnern kann, ob etwas gut oder schlecht ist.»
Neurowissenschaftlerin Kay Tye

Ein pluripotentes Neuropeptid

In den biologischen Prozess, der dabei in unserem Denkorgan abläuft, haben nun Wissenschaftler des Salk Institute for Biological Sciences in Kalifornien etwas Licht gebracht. Das Team um die Neurowissenschaftlerin Kay Tye, das seine Forschungsergebnisse im Fachmagazin «Nature» publizierte, stiess auf einen bestimmten Neurotransmitter, der entscheidend mitbestimmt, ob eine Erinnerung positiv oder negativ besetzt ist.

«Wir verstehen jetzt den grundlegenden biologischen Prozess besser, wie man sich erinnern kann, ob etwas gut oder schlecht ist», erklärt Tye in einer Mitteilung des Instituts. «Dies ist etwas, das für unsere Lebenserfahrung von zentraler Bedeutung ist – und die Vorstellung, dass es sich auf ein einziges Molekül reduzieren lässt, ist unglaublich spannend.»

Beim Molekül, von dem Tye spricht, handelt es sich um Neurotensin, ein aus 13 Aminosäuren bestehendes Neuropeptid, das als Botenstoff fungiert. Bekannt ist, dass es als Hormon die Säuresekretion des Magens hemmt und die Darmkontraktion stimuliert. Im Gehirn hingegen besitzt es eine antipsychotische Wirkung. Dass dieser multifunktionale Neurotransmitter auch am komplexen Vorgang der Bildung von Erinnerungen beteiligt ist, hat das kalifornische Forschungsteam jetzt herausgefunden.

Strukturformel von Neurtensin
https://de.wikipedia.org/wiki/Neurotensin#/media/Datei:Neurotensin.png
Strukturformel von Neurotensin.Bild: Wikimedia

Schaltzentrale Amygdala

Sowohl Menschen wie Tiere lernen, ein negatives Erlebnis in Zukunft zu meiden und ein positives wieder zu suchen. Damit dieser Lernprozess stattfindet, muss das Gehirn mit einem Reiz ein positives oder negatives Gefühl assoziieren – die Biologen nennen dies «Valenz». Die Fähigkeit des Gehirns, diese Gefühle mit einer Erinnerung zu verbinden, bezeichnen sie als «Valenzzuweisung». Eine zentrale Rolle bei diesem Vorgang spielt die Amygdala, ein kleines paariges Organ im Gehirn, das für die emotionale Bewertung und Wiedererkennung von Situationen sowie die Analyse möglicher Gefahren zuständig ist.

Schon 2016 hatten Tye und ihre Kollegen bei Versuchen an Mäusen entdeckt, dass bestimmte Nervenzellen in der basolateralen Amygdala daran beteiligt sind, Erinnerungen positiv oder negativ aufzuladen. Wenn die Mäuse lernten, einen bestimmten Ton mit einem angenehmen, süssen Geschmack zu assoziieren, wurde ein bestimmter Satz von Neuronen in der Amygdala aktiv – wenn sie hingegen lernten, dass ein zweiter Ton jeweils mit einem unangenehmen, bitteren Geschmack einherging, feuerte ein anderer Satz von Neuronen.

«Wir wussten immer noch nicht, welches Signal als Weichensteller fungierte, um zu bestimmen, welches Gleis zu einem bestimmten Zeitpunkt benutzt werden sollte.»
Kay Tye
Expression of various genes and proteins (white, red, and green) in neurons amongst mouse brain cells (blue).
Mäuse-Gehirnzellen (blau) mit unterschiedlichen, farblich hervorgehobenen Genen und Proteinen (weiss, rot und grün) in den Neuronen.Bild: Salk Institute

Diese beiden Neuronenpfade führten also jeweils zu positiver oder negativer Valenz. Doch es war weiterhin nicht klar, was biochemisch dazu führte, dass in einem bestimmten Fall der eine Pfad und nicht der andere aktiviert wurde. Tye nimmt das Bild von zwei Eisenbahngleisen zur Hilfe: «Wir wussten immer noch nicht, welches Signal als Weichensteller fungierte, um zu bestimmen, welches Gleis zu einem bestimmten Zeitpunkt benutzt werden sollte.»

Neurotensin stellt die Weichen

Diese Frage konnten Tye und ihr Team nun beantworten: Der «Weichensteller» ist Neurotensin. Dies zeigte sich in Versuchen mit gentechnisch veränderten Mäusen, die dieses Neuropeptid nicht mehr produzieren konnten. Diesen Tieren gelang es nicht mehr, Erinnerungen an positive Erfahrungen abzuspeichern; sie konnten die assoziative Verbindung zwischen dem Ton und dem süssen Geschmack nicht herstellen. Hingegen führte der Neurotensin-Mangel nicht dazu, dass die negative Valenz blockiert wurde: Diese Mäuse lernten sogar besser als die anderen, den zweiten Ton und den bitteren Geschmack in ihrer Erinnerung zu verknüpfen.

Diesen Befund interpretieren die Wissenschaftler so, dass beim Standardzustand des Gehirns eine Tendenz zur Angst besteht: Tritt ein Reiz auf, werden zunächst jene Neuronen aktiviert, die mit negativer Valenz assoziiert sind. Erinnerungen werden also zunächst automatisch negativ aufgeladen. Erst wenn Neurotensin freigesetzt wird, ändert sich das Bild und jene Neuronen, die mit positiver Valenz assoziiert sind, polen die Erinnerung positiv um.

Therapie für psychische Erkrankungen?

Aus evolutionärer Sicht sei diese inhärente «Schwarzmalerei» des Gehirns durchaus sinnvoll, stellt Tye fest. Denn so neigen Menschen und Tiere dazu, potenziell gefährliche Situationen zu vermeiden. Ein möglicher Nachteil wäre hingegen, dass der Mechanismus auch die Entstehung von psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen fördern könnte. Gerade bei diesen Erkrankungen spielen negative Erfahrungen und Erinnerungen eine wichtige Rolle.

Aus diesem Grund will das Forschungsteam als Nächstes untersuchen, wie hoch der Neurotensin-Speigel im Gehirn solcher Patienten ist. Möglicherweise könnte der Neurotransmitter in der Therapie dieser Krankheiten Anwendung finden. Weitere Experimente sollen zudem die Frage aufklären, welche Signale wiederum verantwortlich dafür sind, dass Neurotensin in bestimmten Fällen freigesetzt wird.

Kay Tye: «Making a memory positive or negative.»Video: YouTube/Salk Institute

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