Der Ellbogen des französischen Gegenspielers traf Mihai Pintilii voll am Kopf. Der rumänische Fussballer blieb liegen, als hätte ihn ein Boxer k.o. geschlagen. Doch die Teamärzte liessen ihn nach einer kurzen Pause weiterspielen, obwohl er weiterhin benommen wirkte.
Solche Szenen sind an der EM keine Seltenheit und einige Mediziner dürften deshalb mit dem Kopf geschüttelt haben. Denn schon der leise Verdacht einer Gehirnerschütterung sollte eigentlich dazu führen, dass ein Spieler ausgewechselt wird.
Bis zu 15'000 Gehirnerschütterungen werden jährlich in Schweizer Krankenhäusern behandelt. Hinzu kommen viele, die nur vom Hausarzt oder gar nicht medizinisch begutachtet werden.
Die Commotio cerebri, wie sie in der Fachsprache heisst, ist ein Alltagsphänomen. Doch gerade in Kontaktsportarten wie Boxen, Fussball und Eishockey wird sie bagatellisiert. Nach dem Motto: Harte Jungs kennen keinen Schmerz.
Doch von einer Bagatelle kann keine Rede sein. Der Zürcher Eishockey-Profi Daniel Schnyder musste kürzlich nach mehreren Gehirnerschütterungen seine Karriere beenden.
Seit der letzten leidet er unter Konzentrationsstörungen und Kopfschmerzen. Zudem braucht er deutlich mehr Schlaf als vor der Verletzung.
Zu den typischen Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen gehören Schlaflosigkeit, epileptische Anfälle, Gedächtnisschwäche und Depressionen.
In den USA haben sich in den letzten Jahren mehrere Football-Profis das Leben genommen. Bei einem von ihnen wurde das Gehirn obduziert.
Dabei fand man unzweifelhafte Belege für eine chronische traumatische Enzephalopathie, einer degenerativen Hirnerkrankung, die man bis dahin nur von Boxern kannte.
Zu deren Symptomen gehört auch die Depression. Am Sunnybrook Health Sciences Centre in Toronto hat man kürzlich die Daten von über 235'000 Erwachsenen analysiert, die in Ontario wegen einer Gehirnerschütterung behandelt wurden.
In einem Nachbeobachtungszeitraum von knapp zehn Jahren entwickelten sie drei Mal häufiger eine Depression als der Landesdurchschnitt. Ihre Selbstmordquote war sogar vier Mal so hoch.
Die Langzeitwirkungen von Gehirnerschütterungen erklären sich aus der Verletzungsanfälligkeit der Neuronen. «Sie sind wie eine lange, dünne Spaghettinudel, mit einem Zellkörper an einem ihrer Enden», sagt der US-amerikanische Neurologe Jeffrey Bazarian. «Das macht sie empfindlich für Dehnungen.»
Wenn der Kopf einen Stoss abbekommt, dreht sich das Gehirn ruckartig um seine Achse im Nacken, mit der Folge, dass die Spaghetti-Nerven ebenso ruckartig gedehnt und daraufhin porös werden.
Das erklärt auch, weshalb bei einer Gehirnerschütterung der für die Orientierung und das Erinnern notwendige Stirnlappen getroffen wird: Er liegt besonders weit weg von der Drehachse, sodass in ihm starke Beschleunigungskräfte entstehen.
Der deutsche Nationalspieler Christoph Kramer fragte beim letzten WM-Fussballfinal den Schiedsrichter, was für ein Spiel gerade laufen würde – kurz vorher war sein Kopf mit der Schulter eines Gegenspielers kollidiert. Man nahm ihn vom Platz.
Gründe genug also, die ersten Zeichen einer Gehirnerschütterung ernst zu nehmen.
Die Deutsche Eishockey-Liga hat kürzlich festgelegt, dass ein Spieler nach einem starken Stoss sofort fünf Fragen beantworten müsse, wie etwa wer das letzte Tor erzielt hat. Liegt er bei einer Frage falsch, muss er vom Eis.
US-Forscher haben zudem einen Schnelltest entwickelt, um umgehend eine Gehirnerschütterung nachweisen zu können.
Man braucht dazu nur einen einzigen Tropfen Blut. Dieser wird dann auf ein Protein namens S100B untersucht, das als zuverlässiger Indikator für die typischen Gewebeschädigungen einer Gehirnerschütterung gilt. In den nächsten Jahren dürfte der Test so weit sein, dass ihn jeder Vereinsarzt am Spielfeldrand durchführen kann.
Zu den wichtigsten Therapien einer Gehirnerschütterung gehört die sofortige und totale Pause. Aber nicht zu lang!
So fanden Forscher des Children’s Hospital of Wisconsin keine Hinweise darauf, dass es Kindern nach einer Gehirnerschütterung nutzt, länger als zwei Tage jegliche körperliche und geistige Anstrengungen zu meiden. Vorausgesetzt, sie halten die Ruhe ein, was auch bedeutet, dass sie auf Computerspiele und Fernsehen verzichten müssen.
An der Universität Zürich hat man untersucht, wann man einen Fussballer nach einer Gehirnerschütterung wieder auf den Platz schicken darf.
Offenbar hängt das von den Beschwerden ab. Bei zentralen Funktionsstörungen wie etwa Gedächtnislücken, Desorientierung und gestörten Augenbewegungen sollte man eine längere Ruhephase in Betracht ziehen.
«Bei einer Störung des Gleichgewichtsorgans empfehlen wir hingegen eine zügige Aufnahme des Trainings, das bestimmte Koordinationsübungen beinhalten sollte», erklärt Studienleiterin Nina Feddermann-Demont. Im Idealfall könne der Sportler sechs Tage nach der Verletzung wieder am regulären Fussballspiel teilnehmen.
(aargauerzeitung.ch)