Als der griechische Erziehungsminister Spyridon Stais im Mai 1902 im archäologischen Nationalmuseum in Athen aus Interesse einen bisher noch nicht näher untersuchten, stark korrodierten Bronzeklumpen zur Hand nahm, passierte das Ungeschick: Ein Stück des Klumpens brach ab – und gab den Blick frei auf ein erstaunlich gut erhaltenes Zahnrad mit nur 1,5 Millimeter hohen Zähnen, wie man es in einem modernen Uhrwerk vermuten würde.
Indes, der Klumpen stammte aus dem Wrack eines römischen Schiffs, das ums Jahr 70 v. Chr. in einer Bucht der vor der Südspitze Griechenlands gelegenen Insel Antikythera gesunken und 1900 von Schwammtauchern entdeckt worden war. Das Wrack hatte Kriegsbeute aus der östlichen Ägäis und Kleinasien geladen, Statuen aus Marmor und Bronze, Keramik- und Glasgefässe, Schmuck und Münzen, die eine Datierung auf die Jahre zwischen 70 und 62 v. Chr. zuliessen.
Ein Präzisionszahnrad aus der Antike, das war für die Wissenschaft ein regelrechter Schock. Was um Himmels willen war das? Die Antwort fand in den 1950er-Jahren der britische Physiker und Wissenschaftshistoriker Derek de Solla Price. «Price begriff, dass das ursprüngliche Gerät flach und rechteckig gewesen war, die Grösse einer heutigen Tischuhr gehabt haben muss und über einen seitlichen Drehknopf oder eine Kurbel verfügte», sagt der Londoner Mathematiker Tony Freeth.
Und weiter: «Ein kompliziertes Räderwerk im Inneren des Gehäuses bewegte eine Reihe von Zeigern über runde Zifferblätter auf der Vorder- und ebenso auf der Rückseite des Geräts. So liessen sich die Positionen von Sonne und Mond exakt darstellen. Für jeden beliebigen Tag und teils auf die Tageszeit genau.» Weil in den Mechanismus Namen von Himmelskörpern eingraviert sind, spekulieren viele Forscher sogar – selbst wenn von solchen Getrieben keine Teile erhalten sind – über Positionsanzeigen der fünf damals bekannten Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn.
Dass die alten Griechen solche Räderwerke konstruiert haben, war in der Literatur schon länger bekannt. Im 1. Jh. v. Chr. wirkte auf der Insel Rhodos der Universalgelehrte Poseidonius, bei dem der Anwalt und spätere römische Konsul Cicero ein Gerät sah, «cuius singulae conversiones idem efficiunt in sole et in luna et in quinque stellis errantibus quod efficitur in caelo singulis diebus et noctibus» («dessen einzelne Umdrehungen dasselbe an Sonne, Mond und den fünf Planeten hervorrufen, was am wirklichen Himmel in den einzelnen Tagen und Nächten abläuft»), wie er um 45 v. Chr. in seinem Werk «De natura deorum» schrieb. Dass diese Schilderung durchaus wörtlich gemeint sein könnte, hatte niemand für möglich gehalten.
Wer verstehen will, was ein mechanisches Getriebe tut, untersucht als erstes die Zahnräder: ihre Lage, ihren Umfang und vor allem die Anzahl der Zähne. Doch auch mit ersten Röntgenbildern des Mechanismus war das keine einfache Sache. Die Fotos waren nicht sonderlich scharf, die Zahnräder selbst nur in Bruchstücken erhalten. Da war etwa ein Rad, auf dem die Radiologen 128 Zähne zu zählen glaubten. 128 ist eine Potenz von 2 und für die Astronomie ohne Bedeutung.
Price dagegen beteuerte, das Rad müsse vielmehr 127 Zähne gehabt haben. «127 ist eine Primzahl», erklärt Freeth. «Sie bezieht sich auf die Umlaufbahn des Mondes. Wenn man den Mond Nacht für Nacht beobachtet, erkennt man, dass er sich über den Sternenhimmel bewegt, einmal in 27,3 Tagen durch den ganzen Tierkreis hindurch. Schon im 5. Jahrhundert vor Christus wussten die alten Babylonier, dass der Mond in 19 Jahren fast genau 254-mal durch den Tierkreis wandert.» 254 ist zweimal 127 – und damit hatte Price diesen präzisen babylonischen Mondkalender gefunden, eingebaut in ein antikes Getriebe mit über 30 Zahnrädern.
Heute, nach weiteren aufwändigen Untersuchungen der insgesamt 82 gefundenen Fragmente, darunter hoch auflösenden, Metall durchdringenden Computertomogrammen, weiss man: Der Mechanismus von Antikythera war ein komplexes, aus Bronze gefertigtes mechanisches Kalendarium, ein zahnradgetriebener analoger Computer, in dessen Platinen Skalen und Texte zu den einzelnen Funktionen eingraviert waren.
Auf der einen Seite befand sich ein Sonnenkalender mit Datumsanzeige. In einen der Zeiger eingelassen war eine sich drehende, zur Hälfte versilberte Kugel, welche die Mondphase anzeigte. Das Zifferblatt trug eine statische Anzeige mit den 12 Tierkreiszeichen und eine Ringskala für die 365 Tage des Jahres, wie sie der ägyptische Kalender vorsah, mit 12 Monaten zu 30 Tagen plus fünf Zusatztagen. Diese Skala war beweglich, um den einmal in vier Jahren auftretenden zusätzlichen Schalttag berücksichtigen zu können.
Die andere Seite des Apparats zeigte zwei weitere Anzeigen: oben einen grossen spiralförmigen Mondkalender mit dem nach dem griechischen Astronomen Meton benannten 19-Jahre-Mondzyklus. Darunter befand sich die ebenfalls spiralförmige Anzeige eines grossen Eklipsenkalenders zur Darstellung von Sonnen- und Mondfinsternissen. Und schliesslich fand sich innerhalb der Mondkalenderanzeige noch eine kleine Vierjahresanzeige des Olympiadenkalenders, welche die Austragungen der panhellenischen Spiele mitsamt dem jeweils wechselnden Austragungsort angab.
Ludwig Oechslin, Technik- und Wissenschaftshistoriker und diplomierter Uhrmachermeister, war von 2001 bis 2014 Direktor des Internationalen Uhrenmuseums in La-Chaux-de-Fonds. 2006 zog eine neue Analyse des Mechanismus von Antikythera in der Zeitschrift «Nature» Oechslins Aufmerksamkeit auf sich, und er beschloss, den Apparat eigenhändig nachzubauen. Mit einer computergesteuerten Fräsmaschine stellte er die Zahnräder her und montierte sie zu einer Replika des antiken Mechanismus.
«Aus der Literatur weiss man zwar, dass es in der Antike solche Räderwerke gab», sagt Oechslin, «aber man hatte nie eines davon gefunden. Nach den neuesten Erkenntnissen kann man heute mit Fug und Recht sagen: Der Mechanismus von Antikythera ist ein analoger Kalendercomputer und damit ein Modell des Kosmos von enormer Präzision.»
Ein Meisterwerk in
- Astronomie
- Mathematik
- Feinmechanik
Ich hatte zutiefst Ehrfurcht!