Populäre Bilder interessierten die Kultur- und Kunstwissenschaft im 20. Jahrhundert lange nur mässig. Das war in der Zürcher Zentralbibliothek nicht anders. Bruno Weber, der damalige Leiter der Graphischen Sammlung stiess 1974 in den unteren Schubladen eines Magazinschranks auf eine Sammlung bunter Drucke mit Bildern aus der ganzen Welt. Er war elektrisiert und begann mit der Erforschung und Erschliessung.
Die Bilder sind heute digitalisiert und gehören zu den am meisten verlangten Beständen der Bibliothek. Mehr noch: Die Zürcher Zentralbibliothek besitzt weltweit eine der grössten Sammlungen mit Photochrom-Drucken aus der Belle-Epoque. Sie umfasst 10'000 Bilder und ist online zugänglich.
Die Photochroms zeigen die bunte Welt der Jahrhundertwende, die auch Belle-Epoque genannt wird. Im Zentrum stehen Ansichten von touristischem Wert. Dazu gehören Bilder der Alpen, klassische Stadtpanoramen, Ansichten aus fernen Ländern oder Bilder von exotischen Volksgruppen aus dem Kaukasus oder Nordafrika. Gelegentlich finden sich auch erotische Abbildungen, vorzugsweise aus dem Orient. Eine kleinere Gruppe bilden Reproduktionen von populären Kunstwerken wie etwa der Gotthardpost von Rudolf Koller.
Die soziale Realität der Belle-Epoque mit Kriegen, Massenarmut und Elend wurde in den Photochrom-Drucken bewusst ausgeblendet. Stattdessen bilden sie ein Wunschbild ab und zeigen damit das Psychogramm einer Epoche. Angeboten wurden die Photochrom-Drucke um die Jahrhundertwende in unterschiedlichen Grössen. Trotzdem sind die Bilder kulturhistorisch wertvoll: Wir sehen etwa eine Gruppe von Alpinisten bei einer Gletscherüberquerung – mit der einfachen Ausrüstung, die damals verfügbar war.
Zahlreiche Ansichten von Gebäuden geben einen Einblick in die Architektur dieser Zeit: Das gilt für den Gasthof auf dem Uetliberg genauso wie für die legendäre Mulberry-Street im New Yorker Stadtteil Manhattan, auch Little Italy genannt. Interessant ist auch ein Motiv aus Belgien, das zwei Hunde abbildet, die einen Milchwagen ziehen. Hunde waren tatsächlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch an vielen Orten als Zugtiere im Einsatz, so auch in der Schweiz.
Grundlage für die bunten Photochrom-Bilder waren nicht etwa Farbfotos, sondern schwarzweisse Vorlagen. Das Verfahren ist ein lithografisches Druckverfahren, das in den 1880er-Jahren vom Zürcher Lithografen Hans Jakob Schmid (1856 - 1924) entwickelt worden ist: Das Negativ wurde auf eine lichtempfindliche Schicht auf dem Stein aufgetragen, für jede zu druckende Farbe musste ein neuer Stein belichtet werden. Vorbereitet wurden die Negative für die einzelnen Farben in aufwändiger Handarbeit. Einige Bilder kommen mit nur wenigen Farben aus, andere benötigten bis zu zwölf Schritte. Die Zürcher Firma Photochrom, eine Tochter des Druckunternehmens Orell Füssli, entwickelte das Verfahren zur Marktreife und begann 1889 mit dem Verkauf von Drucken. 1895 wurde die Firma in Photoglob Zürich umgetauft, die 2014 ihr 125-jähriges Jubiläum feiern konnte.
Das Photochrom-Verfahren fand auch in den USA Anklang, wo Photoglob 1898 die Detroit die Photographic Company gründete. Die verwendeten Farben entsprangen der Vorstellungskraft der Drucker – in vielen Fällen wie etwa den populären Ansichten von Venedig griffen sie auf bestehende Publikationen zurück.
Gelegentlich unterliefen den Gestaltern Fehler bei der Farbgebung. Es braucht allerdings ein geschultes Auge, um dies zu erkennen. Viele der Ansichten waren auch manipuliert: So wurden etwa Personen nachträglich in Stadtansichten eingefügt oder Gebäude versetzt, um einen grösseren Effekt zu erzielen. Das schmälert das Sehvergnügen nicht. Im Gegenteil: Man ertappt sich immer wieder bei einem Schmunzeln, wenn man es bemerkt.
Wie kamen die Drucker zu den Informationen über die Farben? Sie orientierten sich an einschlägigen Quellen. Die Ansichten von Städten wie Venedig waren zu jener Zeit genügend dokumentiert, so dass sich die Gestalter darauf verlassen konnten. In anderen Fällen verliessen sie sich auf ihre Fantasie. Das ist gelegentlich ermüdend, da sich die Farbgebung immer in den gleichen Stereotypen bewegt.
Der Boom der bunten Photochrom-Bilder fand mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende. Die Zürcher Photoglob verlagerte ihre Geschäftstätigkeit auf den Verkauf von Postkarten und bald standen bessere Methoden für den Farbdruck zur Verfügung.