Was der Franzose Louis Daguerre in den 1830er-Jahren erfunden hatte, war eine Sensation. Zwar hatten schon andere daran gearbeitet, die Bilder einer Camera Obscura zu fixieren, aber Daguerre lieferte endlich überzeugende, äusserst scharfe Bilder. Die Erfindung sei von den Männern der Wissenschaft gleich als «eine grosse, riesenhafte, höchst folgenreiche» erkannt worden, schrieb Johann Baptist Isenring (1796–1860) später einmal.
Tatsächlich hatte das neue Verfahren vor allem Naturwissenschafter beeindruckt. Im August 1839 wurde es vor der Akademie der Wissenschaften in Paris öffentlich präsentiert. Danach konnte der Physiker und Astronom François Arago als Präsident der Akademie die französische Regierung davon überzeugen, das Daguerre’sche Verfahren aufzukaufen und allen Interessierten zugänglich zu machen. Daguerre erhielt eine lebenslange Rente, dafür erschienen noch im gleichen Jahr detaillierte Beschreibungen der Daguerreotypie, wie das fotografische Aufnahmeverfahren künftig hiess.
In der Schweiz war Johann Baptist Isenring der erste, der es ausprobierte. Er hatte sich bereits als Maler, Zeichner und Kupferstecher einen Namen gemacht und betrieb in St. Gallen einen Kunstverlag. Unter anderem hatte er eine riesige Sammlung von «malerischen Ansichten der merkwürdigsten Städte und Flecken der Schweiz» herausgegeben. Von rund 30 Orten in der Schweiz präsentierte Isenring sogenannte Gruppenstiche – mit einem grossen Bild in der Mitte und zwölf kleineren darum herum.
Nun aber galt sein Interesse ganz der Daguerreotypie: Mitte August 1839 war sie öffentlich präsentiert worden, schon im November konnte die St. Galler Zeitung melden: «Unser wakere Maler Isenring hat sich weder Mühe noch Geld reuen lassen, um sich von Paris nicht nur neue Daguerre’sche Lichtbilder, sondern auch einen Apparat behufs Selbstanfertigung solcher Bilder zu verschreiben.»
Erste Erfahrungen hatte Isenring schon mit einer anderen Fotografietechnik gesammelt, jener von William Henry Fox Talbot. Trägermaterial war bei Talbot lichtempfindlich gemachtes Papier, bei Daguerre waren es nun mit Silber behandelte Kupferplatten.
Isenring machte sich sofort daran, die Daguerreotypie zu verbessern. Zunächst lichtete er eine Häuserreihe in St. Gallen ab, dann die Stiftskirche. Porträts schienen, bei einer Belichtungszeit von rund einer Viertelstunde, zunächst kaum möglich. Doch Isenring schaffte es, die Belichtungszeit drastisch zu senken, und die wegen des Blinzelns verwischten Augen retuschierte er einfach.
Isenring kam zugute, dass er ganz verschiedene Ausbildungen gemacht hatte. Er selber drückte es so aus: «Der Schreiner und Vergolder, der Ätzer und Landschaftsmaler boten sich in dem Unterzeichneten zum Gelingen des Werks die Hand.»
Isenring war nicht nur der erste Berufsfotograf der Schweiz, sondern auch der erste, der eine Fotoausstellung veranstaltete und dazu einen ausführlichen Katalog drucken liess. Im August 1840 zeigte er die Ausstellung mit 47 Bildern zunächst in St. Gallen, später in Zürich, München, Augsburg, Wien und Stuttgart. Nicht nur bis lebensgrosse Porträts waren darunter, sondern auch einige kolorierte Bilder.
Isenring wurde zur Berühmtheit, die Medien, die er geschickt mit Informationen versorgte, waren begeistert. So schrieb etwa die NZZ über die Ausstellung: «Diese Isenringschen Gemäle besitzen wirklich eine Wahrheit in Umriss und Schattirung, die, wie sich denken lässt, die geschickteste Künstlerhand nicht zu erreichen mag.» Weniger begeistert waren natürlich die Künstler selber, die sich über die neue Kunst recht abfällig äusserten. Isenring selber tat dies als «Brodgeschrei» von «Künstler-Mittelmässigkeiten» ab.
1841 eröffnete Isenring ein «heliographisches Atelier» in München, war gleichzeitig aber mit einem fahrbaren Fotolabor, das zugleich sein Schlaf- und Schreibzimmer war, durch die Schweiz und Süddeutschland unterwegs. «Sonnenwagen» nannte er das Gefährt, dessen Ankunft jeweils in den Zeitungen mit Bild angekündigt wurde. Wer wollte, konnte sich direkt vor Ort von Isenring fotografieren lassen oder Gegenstände zum Ablichten mitbringen.
Isenring wurde nun auch in Königshäuser eingeladen, dem König von Württemberg konnte er seine Porträtsammlung sogar persönlich präsentieren, wie die St. Galler Zeitung im Mai 1841 schrieb: «Der Hof war so erfreut, dass er sogleich die Portraits Sr. K. Hoheit, des Prinzen Friedrich, des Grafen und der Gräfin von Beroldingen, des Freiherrn von Gemmingen u.a. fertigen musste.»
Ab Mitte der 1840er-Jahre wandte sich Isenring wieder vermehrt dem Zeichnen zu. Offenbar war die Konkurrenz unter den Fotografen so gross geworden, dass das Geschäft mit der Druckgrafik wieder mehr Erfolg versprach. Diese hatte zudem den Vorteil, dass sie in grosser Zahl reproduzierbar war. Daguerreotypien waren Einzelstücke – und erst noch seitenverkehrt.
Roland Wäspe, der frühere Direktor des Kunstmuseums St. Gallen und Autor des Standardwerks über Isenrings Druckgrafik, vermutet zudem, dass Isenring mit der Abkehr von der Fotografie seinem Stiefsohn einen besseren Start mit dem eigenen Verlag ermöglichen wollte.
Eine Zeit lang betrieb Isenring Fotografie und Druckgrafik noch nebenbei, 1854 aber beschloss er, sich wieder ganz «seinem früheren Berufe, dem Kupferstechen», zu widmen. Heute sind von den Fotografien des Pioniers Isenring nur noch wenige Exemplare vorhanden. Man kann nur spekulieren, was mit den unzähligen anderen geschehen ist. Vielleicht hat er sie teilweise schon selber entsorgt, nachdem er sie nicht mehr brauchte.
Isenring hat nämlich von einigen seiner Daguerreotypien Vorlagen für Druckgrafiken hergestellt. Da passte es gut, dass diese seitenverkehrt waren, denn der Kupferstecher konnte sie exakt so übertragen und erhielt schliesslich den nicht mehr seitenverkehrten Druck. Auf einigen dieser Bilder hat Isenring vermerkt, dass sie ursprünglich Daguerreotypien waren: «Photographiert vom Herausgeber J.B. Isenring» steht auf manchen Stadt-Ansichten, zum Beispiel vom Zürcher Grossmünster oder den Gebäuden rund um den Paradeplatz. In der Zürcher Zentralbibliothek sind einige dieser Bilder zu finden. Ob Isenring die Originalfotos aufbewahrte, weiss man nicht.
Die Sammlung W. + T. Bosshard gilt heute als bedeutendste Sammlung von Daguerreotypien in der Schweiz. Teil der Sammlung sind auch einige Bilder von Isenring, darunter eine Aufnahme aus dem Jahr 1844, die wohl die älteste noch erhaltene Fotografie Zürichs sein dürfte. Das Bild ist zwar nicht signiert, der Fotohistoriker René Perret ist aber überzeugt, dass es von Isenring stammt – und erst noch Isenring selber mit seinem Sohn am Rand des Bildes zeigt. Abgebildet ist die alte Post in der Nähe des Paradeplatzes, die später zum Zentralhof umgebaut wurde.
Erst vor Kurzem hat Werner Bosshard übrigens eine Daguerreotypie seiner Sammlung hinzufügen können, die Isenring mit seinem Sohn zeigt. Das seltene Bild kann hier erstmals publiziert werden.
Johann Baptist Isenring starb 1860, nur gerade drei Monate nach seiner Frau. Das Tagblatt der Stadt St. Gallen veröffentlichte wenige Tage nach seinem Tod einen Nachruf, in dem seine Rolle als Maler, Verleger und Fotograf ausgiebig gewürdigt wurde: «Maler Isenring hat sich durch unermüdlichen Fleiss, so zu sagen ohne Fremde Beihülfe, zu derjenigen Stufe emporgearbeitet die ihm später in Nah und Fern Anerkennung verschaffte.»
Als Fotopionier geriet Isenring allerdings bald in Vergessenheit. Neue Fotografen, neue Techniken stellten den Pionier, der selber nicht mehr produzierte, in den Schatten. Erst eine Quellensammlung des Sammlers und Historikers Erich Stenger aus dem Jahr 1931 half mit, die bedeutende Rolle Isenrings wieder zu würdigen.