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Unterschätzt der Weltklimarat Extrem-Szenarien? Forschende ordnen ein

Spielt der Weltklimarat extreme Szenarien runter? Schweizer Klimaforscher nehmen Stellung

Eine Gruppe von Wissenschaftern wirft den offiziellen Gremien vor, dass sie die Worst-Case-Szenarien des Klimawandels herunterspielen. Zwei renommierte Schweizer Fachpersonen ordnen jetzt erstmals ein.
06.08.2022, 17:07
Annika Bangerter / ch media
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Waldbrände, Trockenheit und Hitze: Wetterextreme nehmen zu. Die Folgen sind verheerend.
Waldbrände, Trockenheit und Hitze: Wetterextreme nehmen zu. Die Folgen sind verheerend.Bild: Keystone

Überschwemmungen reissen Häuser mit sich, Brände vernichten riesige Waldflächen und Menschen sterben aufgrund der Hitze: Das sind keine Zukunftsszenarien, das ist die Gegenwart. Und die Warnungen des Weltklima­rates IPCC sind eindeutig: Das ist erst der Anfang. Wetterextreme häufen sich und werden intensiver. So weit, so düster.

Anfang dieser Woche hat allerdings eine Gruppe von Forschenden mit einem Appell auf sich aufmerksam gemacht: Die Wissenschaft vernachlässige die Worst-Case-Szenarien des Klimawandels. Es gäbe nur wenige Studien darüber, wie die Auswirkungen der Klimaerwärmungen kaskadenartig auftreten oder grössere Krisen auslösen könnten. Sprich, wie diese Konflikte, Hungersnöte oder Migrationsbewegungen bedingt und beeinflusst.

Namentlich kritisieren die Forschenden den Weltklimarat. Dieser würde sich primär auf die Auswirkungen einer Erderwärmung von 1,5 und 2 Grad konzentrieren, einen stärkeren Temperaturanstieg hingegen kaum beachten. Dies, weil es sich dabei um die Ziele des Pariser Klimaabkommens handelt. Aber auch, weil in der Klimaforschung eher untertrieben würde, um nicht als Panikmachende zu erscheinen.

«Der IPCC hat sich noch nicht mit dem katastrophalen Klimawandel befasst», behaupten die Wissenschafter rund um Risikoforscher Luke Kemp von der Universität Cambridge. Von den vierzehn Sonderberichten behandle keiner «extreme oder katastrophale Veränderungen». Was sie unter der Katastrophe verstehen, erläutern sie im Artikel «Climate endgame» – «Klima-Endspiel»: den Zusammenbruch der Zivilisation oder gar das Aussterben der Menschheit. Kurz: die Apokalypse.

Schweizer Forschende kontern: Weltklimarat verharmlose nicht

Der Appell sorgte auch deswegen für Furore, weil ihn renommierte Köpfe wie Hans Joachim Schellnhuber, Gründer des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), oder Johan Rockström, heutiger PIK-Chef, zeichnen. Zudem erschien er in der gewichtigen wissenschaftlichen Fachzeitschrift PNAS.

ETH-Professorin Sonia Seneviratne hat bei mehreren Berichten des IPCC mitgewirkt, darunter mehrmals als Hauptautorin. Es sei nicht falsch, wenn der beschriebene Katastrophenfall untersucht würde, sagt die profilierte Klimawissenschafterin. Doch für sie sei das nicht massgeblich:

«Die Auswirkungen eines Temperaturanstiegs von 2 statt 1,5 Grad wären bereits verheerend.»
Sonia Seneviratne, Professorin für Land-Klima Dynamik an der ETH
Sonia Seneviratne, Professorin für Land-Klima Dynamik an der ETH.Bild: zVg

Die ETH-Forscherin ergänzt: «Dies würde beispielsweise zu einem grossen Artensterben oder zu erheblichen Risiken für globale Ernteausfälle führen. Diese Szenarien sind entsprechend schlimm genug, um sie unbedingt zu verhindern.»

Die Kritik, dass der IPCC die schlimmsten Klimaszenarien zu wenig beachte, sei schlicht falsch, sagt sie. «Wir beschrieben auch Szenarien für einen Anstieg von 4 Grad. Ein solcher wäre absolut extrem.» Voraussichtlich im Jahr 2030 habe sich die Erde um 1,5 Grad erwärmt. Das stelle die Weltgemeinschaft vor grosse Herausforderungen. «Wir haben den Fokus daher auf plausible Szenarien ausgerichtet und nicht auf solche mit einer geringen Wahrscheinlichkeit», sagt Seneviratne.

Ähnlich klingt es bei ihrem ETH-Kollegen, Klimatologe und ebenfalls IPCC-Hauptautor Reto Knutti:

«Dass man extreme Szenarien vernachlässigt hat, weise ich entschieden zurück. Im Gegenteil, die höchsten IPCC-Emissionsszenarien gelten heute als unwahrscheinlich.»

Bezüglich der Auswirkungen gäbe es zwar blinde Flecken, wie es die Autoren richtig aufzeigten. «Das Problem ist allerdings, dass es kaum zuverlässige quantitative Modelle und Studien gibt, die etwa Migration, Massensterben, Konflikte oder die Ausbreitung von Krankheitserregern beschreiben», sagt Knutti. Entsprechend spekulativ würde das Ganze.

Die Autorinnen und Autoren von «Climate endgame» versprechen sich von der Erforschung der Worst-Case-Szenarien, dass sie klimapolitische Massnahmen vorantreiben, die Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimaveränderungen verbessern und Grund­lagen für Notfallszenarien liefern. Sie verlangen vom IPCC, einen Sonderbericht über katastrophale Klimaveränderungen zu erarbeiten. Dieser könne nicht nur zu weiterer Forschung führen, sondern der Öffentlichkeit aufzeigen, wie viel auf dem Spiel steht.

Statt Weltuntergangsszenarien brauche es politischen Willen

ETH-Klimaforscherin Sonia Seneviratne bezweifelt dies. Für sie kann die Forderung sogar kontraproduktiv ausfallen:

«Diese vermittelt das Gefühl, dass es noch mehr Forschung braucht. Das führt aber zu einer Verlangsamung des Handelns.»

Sie sei alles andere als gegen weitere wissenschaftliche Erkenntnisse, aber: «Wir wissen heute schon genug, dass weitere Emissionen jetzt vermieden werden müssen. Es wäre schlicht verantwortungslos, wenn mit einem Drei-Grad-Fokus eine falsche Sicherheit entstünde im Sinne von: Vorher passiert nichts Schlimmes.» Wirksamer als hypothetische Worst-Case-Szenarien sei die richtige Einordnung von tatsächlichen Ereignissen. Ein Hitzesommer sei ein stärkerer Weckruf als hypothetische Modelle.

Dass die «Endzeit»-Szenarien die Menschen zum Handeln anspornten, glaubt auch Klimatologe Knutti nicht. Die Geschichte habe gezeigt, dass immer klarere Beweise für den anthropogenen Klimawandel nicht zu den entsprechenden Reaktionen darauf führen. «Wir reagieren mehr, als wir planen», sagt Knutti. Covid sei dafür ein gutes Beispiel: Obwohl die Gefahr einer Pandemie bekannt war, traf sie die Menschen unvorbereitet.

Zudem führten Weltuntergangsszenarien oft dazu, dass sich die Leute hilflos abwenden oder Fakten verneinen. Auch die Begrifflichkeit «Endgame» lasse sich leicht missinterpretieren im Sinne, dass sowieso alles verloren sei. «Der Klimawandel ist eine riesige Her­ausforderung», sagt Knutti. Und fügt an: «Wir meistern ihn nicht mit Endzeit und Weltuntergang, sondern mit politischem Willen und Lösungen.» (aargauerzeitung.ch)

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47 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Chnebeler
06.08.2022 17:37registriert Dezember 2016
Wie realistisch ist das erreichen des 2° Ziels bei unserem aktuellen Kurs? Ich glaube das immer noch viel zu viele nicht begriffen haben was auf dem Spiel steht. Wissen tut es jeder aber wir müssen es begreifen und endlich Handeln. Die ablehnug aller Umweltschutzinitiativen und Vorlagen in den letzten zwei Jahren zeigt, das wir den ernst noch immer nicht begriffen haben. Ich bin fest überzegt, das die skizzierten Szenarien zu optimistisch sind, da sie auf vernünftigem Mitwirken und handeln aufbauen.
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Revolverblatt
06.08.2022 18:26registriert Dezember 2020
Als der IPCC 2017 die 1.5 Grad Erderwärmung über der vorindustriellen Zeit zum Ziel erklärte, gab es laut Aussage von Roger Hallam von XR keinen beteiligten Wissenschaftler, der einer Umfrage nach an dieses Ziel glaubte. Die Zahlen werden beschönigt. Selbst der IPCC rechnet CO2-Extraktion mit ein, von der wir noch nicht wissen, ob wir sie je haben werden. Es gibt sie, aber die Skalierung ist offen. Ausserdem wird viel zu wenig über die Trägheit des Systems gesprochen. Wir erleben jetzt die Auswirkungen der Emissionen vor 30 Jahren. Ja, wir müssen über mögliche Katastrophenszenarien reden.
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