Überschwemmungen reissen Häuser mit sich, Brände vernichten riesige Waldflächen und Menschen sterben aufgrund der Hitze: Das sind keine Zukunftsszenarien, das ist die Gegenwart. Und die Warnungen des Weltklimarates IPCC sind eindeutig: Das ist erst der Anfang. Wetterextreme häufen sich und werden intensiver. So weit, so düster.
Anfang dieser Woche hat allerdings eine Gruppe von Forschenden mit einem Appell auf sich aufmerksam gemacht: Die Wissenschaft vernachlässige die Worst-Case-Szenarien des Klimawandels. Es gäbe nur wenige Studien darüber, wie die Auswirkungen der Klimaerwärmungen kaskadenartig auftreten oder grössere Krisen auslösen könnten. Sprich, wie diese Konflikte, Hungersnöte oder Migrationsbewegungen bedingt und beeinflusst.
Namentlich kritisieren die Forschenden den Weltklimarat. Dieser würde sich primär auf die Auswirkungen einer Erderwärmung von 1,5 und 2 Grad konzentrieren, einen stärkeren Temperaturanstieg hingegen kaum beachten. Dies, weil es sich dabei um die Ziele des Pariser Klimaabkommens handelt. Aber auch, weil in der Klimaforschung eher untertrieben würde, um nicht als Panikmachende zu erscheinen.
«Der IPCC hat sich noch nicht mit dem katastrophalen Klimawandel befasst», behaupten die Wissenschafter rund um Risikoforscher Luke Kemp von der Universität Cambridge. Von den vierzehn Sonderberichten behandle keiner «extreme oder katastrophale Veränderungen». Was sie unter der Katastrophe verstehen, erläutern sie im Artikel «Climate endgame» – «Klima-Endspiel»: den Zusammenbruch der Zivilisation oder gar das Aussterben der Menschheit. Kurz: die Apokalypse.
Der Appell sorgte auch deswegen für Furore, weil ihn renommierte Köpfe wie Hans Joachim Schellnhuber, Gründer des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), oder Johan Rockström, heutiger PIK-Chef, zeichnen. Zudem erschien er in der gewichtigen wissenschaftlichen Fachzeitschrift PNAS.
ETH-Professorin Sonia Seneviratne hat bei mehreren Berichten des IPCC mitgewirkt, darunter mehrmals als Hauptautorin. Es sei nicht falsch, wenn der beschriebene Katastrophenfall untersucht würde, sagt die profilierte Klimawissenschafterin. Doch für sie sei das nicht massgeblich:
Die ETH-Forscherin ergänzt: «Dies würde beispielsweise zu einem grossen Artensterben oder zu erheblichen Risiken für globale Ernteausfälle führen. Diese Szenarien sind entsprechend schlimm genug, um sie unbedingt zu verhindern.»
Die Kritik, dass der IPCC die schlimmsten Klimaszenarien zu wenig beachte, sei schlicht falsch, sagt sie. «Wir beschrieben auch Szenarien für einen Anstieg von 4 Grad. Ein solcher wäre absolut extrem.» Voraussichtlich im Jahr 2030 habe sich die Erde um 1,5 Grad erwärmt. Das stelle die Weltgemeinschaft vor grosse Herausforderungen. «Wir haben den Fokus daher auf plausible Szenarien ausgerichtet und nicht auf solche mit einer geringen Wahrscheinlichkeit», sagt Seneviratne.
Ähnlich klingt es bei ihrem ETH-Kollegen, Klimatologe und ebenfalls IPCC-Hauptautor Reto Knutti:
Bezüglich der Auswirkungen gäbe es zwar blinde Flecken, wie es die Autoren richtig aufzeigten. «Das Problem ist allerdings, dass es kaum zuverlässige quantitative Modelle und Studien gibt, die etwa Migration, Massensterben, Konflikte oder die Ausbreitung von Krankheitserregern beschreiben», sagt Knutti. Entsprechend spekulativ würde das Ganze.
Die Autorinnen und Autoren von «Climate endgame» versprechen sich von der Erforschung der Worst-Case-Szenarien, dass sie klimapolitische Massnahmen vorantreiben, die Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimaveränderungen verbessern und Grundlagen für Notfallszenarien liefern. Sie verlangen vom IPCC, einen Sonderbericht über katastrophale Klimaveränderungen zu erarbeiten. Dieser könne nicht nur zu weiterer Forschung führen, sondern der Öffentlichkeit aufzeigen, wie viel auf dem Spiel steht.
ETH-Klimaforscherin Sonia Seneviratne bezweifelt dies. Für sie kann die Forderung sogar kontraproduktiv ausfallen:
Sie sei alles andere als gegen weitere wissenschaftliche Erkenntnisse, aber: «Wir wissen heute schon genug, dass weitere Emissionen jetzt vermieden werden müssen. Es wäre schlicht verantwortungslos, wenn mit einem Drei-Grad-Fokus eine falsche Sicherheit entstünde im Sinne von: Vorher passiert nichts Schlimmes.» Wirksamer als hypothetische Worst-Case-Szenarien sei die richtige Einordnung von tatsächlichen Ereignissen. Ein Hitzesommer sei ein stärkerer Weckruf als hypothetische Modelle.
Dass die «Endzeit»-Szenarien die Menschen zum Handeln anspornten, glaubt auch Klimatologe Knutti nicht. Die Geschichte habe gezeigt, dass immer klarere Beweise für den anthropogenen Klimawandel nicht zu den entsprechenden Reaktionen darauf führen. «Wir reagieren mehr, als wir planen», sagt Knutti. Covid sei dafür ein gutes Beispiel: Obwohl die Gefahr einer Pandemie bekannt war, traf sie die Menschen unvorbereitet.
Zudem führten Weltuntergangsszenarien oft dazu, dass sich die Leute hilflos abwenden oder Fakten verneinen. Auch die Begrifflichkeit «Endgame» lasse sich leicht missinterpretieren im Sinne, dass sowieso alles verloren sei. «Der Klimawandel ist eine riesige Herausforderung», sagt Knutti. Und fügt an: «Wir meistern ihn nicht mit Endzeit und Weltuntergang, sondern mit politischem Willen und Lösungen.» (aargauerzeitung.ch)