Endlich haben wir es schwarz auf weiss: «Völkerball ist Mobbing», sagt die kanadische Professorin Joy Butler und fordert Konsequenzen. Das Spiel müsse aus dem Lehrplan entfernt werden.
Sie und ihr Team haben Interviews mit Kindern geführt und herausgefunden, dass einige davon das Ballspiel «hassen». Weiter beschreibt sie in der Washington Post eine Spielsituation: «Ich stelle mir das kleine Mädchen am Seitenrand vor, das flüchtet, um nicht beworfen zu werden. Was lernt dieses Mädchen dabei?»
Frau Butler hat recht. Wenn ich mir das kleine Mädchen am Seitenrand vorstelle, kocht bei mir auch gleich die Wut hoch.
Die Wut auf das kleine Mädchen. Bei uns trug sie die Initialen N.P.
Ich erinnere mich noch gut, wie N.P. verzückt auf der Grundlinie hin und her wippte, mit ihren fröhlichen Augen, genau wissend, dass sie uns mit ihrer katzenhaften Agilität gleich wieder ins Leere laufen lassen würde.
Diese Hilflosigkeit, dieses Ohnmachtsgefühl. Dieses miese kleine Mädchen N.P. war einfach nicht zu treffen. Matrixmoves Jahre vor «The Matrix».
Mit jedem Fehlwurf wurde das Gejohle am Seitenrand lauter, Anfeuerungsrufe für N.P., Gespött für die Werfer. Wie kann man nur so unmenschlich jemandem seine Grenzen aufzeigen.
Und dann dieser Druck. Dieser enorme Druck für uns, die über einen anständigen Wurf verfügten, endlich zu treffen. Nicht nur N.P., sondern auch ins Bullseye der Genderstereotypisierung. Wer kann unter einer solchen Belastung designierte Opfer ihrer Bestimmung zuführen?
Völkerball sei «dehumanisierend» und fördere aggressives Verhalten, sagt die kanadische Forscherin. Ich kann das nur bestätigen.
Sogar unserem feinfühligen Lehrer gelang es nicht, den kriegerischen Aspekt von Völkerball unter das muffige Linoleum der Turnhalle in Greifensee zu kehren. Kaum kramte er die rosaroten Schaumstoffbälle hervor, verwandelten wir uns ins mordlustige Monster. «Völk» war nicht einfach nur ein lustiges Spiel. Es war Vorspiel für die obligate Messerstecherei danach auf dem Pausenplatz.
Es gehe beim Völkerball darum, den Gegner zu zerstören – und die Kinder würden absichtlich unfaire Teams bilden und die Siege wirklich geniessen, erklärt Butler weiter. Wo denn da die echte Freude sei? Ich weiss es nicht mehr. Der Blutrausch hat mir die Erinnerung geraubt.
«Was lernt dieses Mädchen dabei?», fragt Joy Butler nochmals in Bezug auf ihr Opfer. Vielleicht, wie man die eigenen individuellen Stärken erkennt und sie strategisch geschickt einsetzt? Oder Misserfolgserträglichkeit? Eine Eigenschaft, die im Berufsleben so wichtig ist, wie die emeritierte Professorin Margrit Stamm kürzlich in der NZZ schrieb.
Egal.
Ich «hasse» die NZZ (ein bisschen), und deshalb streiche ich sie aus meinem Lehrplan. Mein Learning ist vielmehr: Kinder dürfen keinen Widerständen und schon gar nicht Wettbewerben ausgesetzt werden. Dinge, die sie möglicherweise nicht mögen könnten, eventuell unter Umständen in gewissen Situationen, sind tabu und gehören verboten.
Ich werde es bei der Erziehung meiner Kinder ab heute auch so handhaben: Pünktlich ins Bett gehen, Gemüse und Zähneputzen war gestern.
Alles total dehumanisierend.
Es mag nicht das tollste Spiel auf Erden gewesen sein, aber eines, was wir immer gerne gespielt haben in allen möglichen Varianten (Burgenvölk imfall!)
Kann das nicht nachvollziehen.