Alzheimer ist eine gefürchtete Diagnose. Die Vorstellung, langsam, aber sicher seine kognitiven Fähigkeiten einzubüssen, bis man irgendwann nicht einmal mehr seine liebsten Menschen erkennt, ist erschreckend. Dazu kommt: Die neurodegenerative Krankheit ist beim gegenwärtigen Stand der Medizin unheilbar, und sie stellt auch die Angehörigen der Erkrankten vor eine riesige Herausforderung.
Alzheimer, nach dem deutschen Neurologen Alois Alzheimer benannt, ist durch das Absterben von Nervenzellen im Gehirn gekennzeichnet. Dadurch werden Erkrankte zunehmend vergesslich, verwirrt und orientierungslos. Zudem verändert die fortschreitende Krankheit die Persönlichkeit und das Verhalten der Betroffenen; manche werden unruhig, aggressiv oder depressiv. In den alternden Gesellschaften der Industrieländer wird Alzheimer allmählich zu einer Volkskrankheit, denn das Risiko, daran zu erkranken, steigt mit dem Alter.
Kein Wunder, fliessen enorme Summen in die Erforschung dieses unheimlichen Leidens. Bisher noch ohne durchschlagenden Erfolg – die Ursachen der rätselhaften Erkrankung sind nicht vollständig geklärt, und bisher gibt es kein Medikament, das den Verlust von Nervenzellen im Gehirn stoppen kann. Nach wie vor ist es nur möglich, den Krankheitsverlauf zu verzögern und Symptome zu lindern.
Nun aber könnte die Forschung einen entscheidenden Durchbruch erzielt haben: Eine Studie von Wissenschaftlern aus Grossbritannien und China hat in gefrorenen Blutproben mehrere Proteine entdeckt, deren Vorhandensein verschiedene Formen von Demenz – Alzheimer ist nur eine Form solcher neurodegenerativer Erkrankungen – mehr als zehn Jahre vor der Diagnose vorhersagen können.
Die bisher umfangreichste derartige Studie, die in der Fachzeitschrift «Nature Aging» veröffentlicht wurde, kam im Rahmen von laufenden Forschungsarbeiten zustande, in denen mehrere Teams versuchen, Patienten mit einem Demenzrisiko anhand eines einfachen Bluttests zu identifizieren. Sollte dies gelingen, wäre es nach Ansicht vieler Forscher ein Fortschritt, der die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden wesentlich beschleunigen würde.
Die Forscher der University of Warwick in Coventry und der Fudan University in Shanghai untersuchten 52'645 Blutproben aus dem britischen Biobank-Forschungsarchiv. Die Proben waren zwischen 2006 und 2010 Menschen entnommen worden, die zu diesem Zeitpunkt keinerlei Anzeichen von Demenz aufwiesen. Von den Personen, von denen diese Blutproben stammten, erkrankten innerhalb der folgenden 14 Jahre 1417 an Demenz unterschiedlicher Ursache: Alzheimer, vaskuläre Demenz – diese geht auf die Zerstörung von Hirngewebe aufgrund einer verringerten oder blockierten Blutversorgung zurück – oder eine andere Form von Demenz.
Die Wissenschaftler nahmen nun mithilfe von Künstlicher Intelligenz die Proteinsignaturen unter die Lupe, die bei diesen Personen häufig vorkommen und mit der Entstehung von Demenz in Verbindung gebracht werden konnten. Sie analysierten insgesamt 1463 Proteine, von denen 11 identifiziert und zu einem Proteinpanel zusammengefasst wurden, das eine hohe Genauigkeit bei der Vorhersage künftiger Demenzerkrankungen aufweist.
Es zeigte sich insbesondere, dass Personen, in deren Blut sich höhere Werte der vier Proteine Gliafilament-Protein (Gfap), Neurofilament light chain (Nefl), Growth/differentiation factor 15 (Gdf15) und Latent-transforming growth factor beta-binding protein 2 (Ltbp2) nachweisen liessen, durchwegs ein höheres Risiko aufwiesen, an einer der Demenz-Formen zu erkranken.
Bei Personen mit erhöhten Gfap-Werten lag diese Wahrscheinlichkeit 2,32-mal höher. Ein erhöhter GfaP-Wert kann durch Entzündungen im Gehirn verursacht werden, die bestimmte Zellen – sogenannte Astrozyten – zu einer Überproduktion des Proteins veranlassen. Dieser Befund bestätigt die Ergebnisse früherer Studien, die auf den Beitrag von GfaP verwiesen hatten. Auch Gdf15 wurde bereits als diagnostischer Marker für die Alzheimer-Krankheit vorgeschlagen.
Das Blutprotein Nefl wiederum wird mit der Schädigung von Nervenfasern in Verbindung gebracht, während erhöhte Gdf15-Werte nach einer Schädigung der Blutgefässe des Gehirns auftreten können. Erhöhte Werte von Gfap und Ltbp2 sind sehr spezifisch für Demenz, aber nicht für andere Hirnerkrankungen.
Die Werte dieser vier Protein-Biomarker wurden mittels – durch Künstliche Intelligenz entwickelten – Vorhersage-Algorithmen mit bekannten Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht, Bildungsstand, genetischer Anfälligkeit und Familiengeschichte abgeglichen. Die Wissenschaftler trainierten das Modell anhand der Daten von zwei Dritteln der Studienteilnehmer und testeten seine Leistung anhand der Daten der verbleibenden 17'549 Personen. Die Proteinprofile ermöglichten es den Forschern, Demenz mit einer geschätzten Genauigkeit von 90 Prozent vorherzusagen – und dies beinahe 15 Jahre, bevor die Krankheit sich klinisch bestätigen liess.
Eine frühzeitige Diagnose für Demenz-Patienten ist wichtig, weil neue Medikamente das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen können – allerdings nur dann, wenn die Krankheit früh genug erkannt wird. Zu diesen neuen Arzneimitteln gehören etwa Lecanemab oder Donanemab, die allerdings schwere Nebenwirkungen verursachen können.
Heute wird die Diagnose aber oft erst gestellt, wenn die Betroffenen Gedächtnisprobleme oder andere Symptome bemerken. Dann kann die Krankheit jedoch bereits seit Jahren fortgeschritten sein. «Wenn wir sie erst einmal diagnostiziert haben, ist es fast zu spät», erklärt der Computerbiologe Jian-Feng Feng von der Universität Fudan, ein Mitautor der Studie. Die Diagnose beruht zudem auf invasiven und/oder teuren Methoden, beispielsweise der Punktion des Rückenmarkkanals, um komplexe Biomarker aufzuspüren, oder bildgebenden Verfahren wie der MRI-Untersuchung des Gehirns.
Derzeit können Gehirnscans abnorme Werte eines Proteins namens Beta-Amyloid (β-Amyloid, Aβ) feststellen, dessen Ablagerungen im Gehirn ein Kennzeichen der Alzheimer-Erkrankung sind. Damit ist es zwar ebenfalls möglich, Alzheimer frühzeitig zu erkennen, doch die Tests sind kostspielieg, und die Versicherungen übernehmen die Kosten dafür oft nicht.
Der Bluttest könnte solche Verfahren ersetzen oder ergänzen. «Wir hoffen, damit ein Screening-Kit zu entwickeln, das im staatlichen Gesundheitsdienst eingesetzt werden kann», sagt Feng. Die Forscher befinden sich derzeit in Gesprächen mit Unternehmen, um den Bluttest zu entwickeln. Die Kosten liegen allerdings noch bei mehreren hundert Franken; sie müssen drastisch sinken, um den Test rentabel zu machen. (dhr)