Um die Entwicklung einer bestimmten Nation zu erklären, greift der bekannte Anthropologe Jared Diamond («Guns, Germs & Steel») zu einem Vergleich: Er setzt die Entwicklung eines bestimmten Landes mit der Entwicklung eines Individuums gleich. Man kann sich über Sinn oder Unsinn dieses Vergleichs streiten, wendet man ihn jedoch auf Russland an, ist das Resultat niederschmetternd. Kaum ein «Kind» wurde mehr misshandelt als das russische.
Aus Angst, vom Thron verdrängt zu werden, liessen sowohl Iwan der Schreckliche als auch Peter der Grosse jeweils ihre eigenen Söhne umbringen. Sigmund Freud lässt grüssen. Ihre Untertanen behandelten sie derweil wie den letzten Dreck, ja sie führten gar die Leibeigenschaft ein, was der Versklavung des eigenen Volkes gleichkommt.
Dabei sind die Russen vergleichsweise spät in den «Prozess der Zivilisation» eingestiegen, wie sich der berühmte Soziologe Norbert Elias einst ausdrückte. Anders als in China oder Westeuropa gibt es keine Jahrtausend alte Tradition. Bis zu Peter dem Grossen gab es diesbezüglich wenig bis nichts, wie der Historiker und Russland-Spezialist Orlando Figes in seinem Buch «eine Geschichte Russlands» festhält. Der bis heute legendärste Zar regierte von 1682 bis 1721.
Katharina die Grosse machte sich nicht nur wegen ihres angeblich ausschweifenden Sexlebens – «unerhörte Orgien in den Kellern des Winterpalastes!» – einen Namen. Sie führte auch die Grossmachtpolitik ihrer Vorgänger weiter und machte sich die Ukraine untertan. Weil dieses Land nicht nur gross und fruchtbar, sondern auch spärlich bevölkert war, lockte die ursprünglich aus Deutschland stammende Kaiserin in grossem Stil ihre Landsleute in diese Gebiete. Ebenso gründete sie die Städte Odessa und Cherson.
Damit sind wir bei Inna Hartwich angelangt. Die heute 44-jährige Journalistin – sie schreibt unter anderem auch für die NZZ – entstammt einer russlanddeutschen Familie und berichtet regelmässig aus Moskau. In ihrem Buch «Friedas Enkel» beschreibt sie nicht nur das unglaublich harte Los dieser Menschen, sie zeigt auch auf, wie die Grausamkeit bis heute Teil der russischen Kultur geblieben ist.
Hartwichs Familie war ursprünglich in einem Dorf in Wolhynen, einem Teil der Westukraine, angesiedelt. Das Drama ihrer Grossmutter Frieda begann mit dem Ersten Weltkrieg. Als Russlanddeutsche unter Generalverdacht gerieten und aufs Übelste diskriminiert wurden.
In der Sowjetunion wurde alles noch viel schlimmer. Als nach einem fünfjährigen und unvorstellbar grausamen Bürgerkrieg mit rund zwölf Millionen Toten die Kommunisten endlich ihre Macht gesichert hatten, begann das Terrorregime von Josef Stalin. Der russische Diktator braucht keinen Vergleich mit Adolf Hitler zu fürchten. Er stand ihm in Sachen Brutalität in nichts nach.
Die Russlanddeutschen in der Ukraine waren davon doppelt betroffen. Stalin hasste die Ukraine und liess im Holodomor gegen fünf Millionen ukrainische Bauern verhungern. So gesehen hatten die Hartwichs noch Glück. Sie wurden lediglich in ein Niemandsland an der Grenze zu Sibirien verfrachtet und wurden so Teil des Gulag.
Hinter diesem scheinbar harmlosen Begriff steckt, was Hartwich wie folgt zusammenfasst:
«Ein Netz aus allerlei Formen von Isolation, Zwang, Bestrafung, Zerstörung, Leid, Menschenvernichtung, Tod ist über die riesigen sowjetischen Weiten gezogen, vom Weissen Meer, vom Zentrum Moskaus bis nach Kasachstan. 20 Millionen Menschen durchliefen die Lager, zwei Millionen kamen dabei um, 700’000 Menschen richtete das sowjetische Regime hin (…).»
Aus Inna Hartwichs «Friedas Enkel»
Nach dem Tod Stalins wurde das Gulag-Netz aufgelöst, nicht etwa, weil das Regime die Menschlichkeit entdeckt hätte, sondern weil die Rechnung wirtschaftlich nicht mehr aufging. Der Aufwand zur Bewachung der Geknechteten wurde grösser als der Ertrag.
Bis heute haben die Russen diesen düsteren Aspekt ihrer Geschichte nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil, 2021 hat Wladimir Putin die Organisation Memorial, die sich dieser Aufgabe gewidmet hatte, auflösen lassen. Obwohl der Gulag durchaus mit den deutschen Konzentrationslagern vergleichbar ist, wird er von den Russen nicht auf diese Weise wahrgenommen. Für den wirtschaftlichen Aufbau habe es den Gulag wohl gebraucht, wird das Ganze immer noch mit einem Schulterzucken abgetan. Und ja, mehr als die Hälfte der Russen hält Stalin noch heute für den grössten Staatsmann aller Zeiten.
Für die Hartwichs bedeutete das Ende des Gulag eine erneute Deportation. Diesmal ging es an die Grenze zu Kasachstan, das damals noch Teil der UdSSR war. Erneut musste die Familie von Grund auf neu anfangen. Sie wurden buchstäblich im Niemandsland ausgesetzt und mussten alles selbst aufbauen. Das bedeutet konkret, dass Frieda, die Grossmutter, schon Tage nach der Geburt eines ihrer Kinder wieder in den Wald ziehen und Holz schlagen musste. Kein Wunder war diese Frau keine «Babuschka», keine gütige Grossmutter. Sie war hart und kompromisslos gegenüber ihren Kindern und Enkeln. «Fresst!», pflegte sie zu sagen, wenn sie ihnen das meist fettige Mahl auftischte.
Erst Gorbatschow erlöste die Russlanddeutschen. Er erlaubte ihnen die Ausreise in ihre ursprüngliche Heimat. Deshalb leben heute rund 2,5 Millionen von ihnen wieder in Deutschland, unter ihnen auch die Hartwichs.
Obwohl Russland ein mit Rohstoffen reich gesegnetes Land ist, ist die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor arm, vor allem auf dem Land. Das ist mit ein Grund, weshalb es Putin gelingt, genügend Soldaten für seinen Krieg gegen die Ukraine zu finden. Hartwich zitiert einen Kranbauer, der sie auf einer Expedition begleitet, wie folgt:
«Der Krieg bringt Arbeit, er bringt Geld, für einige auch einen Sinn im Leben. Lieber zieht man in den Krieg, aber weiss seine Familie versorgt. Der eigene Tod hat dann wenigstens für etwas Gutes gesorgt.»
Aus Inna Hartwichs «Friedas Enkel»
Kritiklose Obrigkeitshörigkeit paart sich mit einem geradezu missionarischen Anspruch. Die Russen leiden immer noch an einem der übelsten Experimente, das je mit einem ganzen Volk durchgeführt wurde. Nach der geglückten Revolution setzten die Kommunisten alles daran, einen neuen Menschentyp, den «homo sovieticus», zu formen. «Es war ein Menschenexperiment voller Schrecken und Leid, und es gelang», so Hartwich. «Weil es aber so gut gelungen war, fällt es bis heute sehr vielen Menschen – nicht nur in Russland – schwer, sich aus dem einstigen Laboratorium des Marxismus-Leninismus wegzubewegen.»
Das Experiment zeigt Folgen bis in die Gegenwart. Der Begriff «toxische Männlichkeit» mag hierzulande ein bisschen überstrapaziert sein. In Russland ist er angebracht. «Männlichkeit in Russland ist grundsätzlich oft vom Tod begleitet», stellt Hartwich fest. «Die Männer messen ihre Kraft in Schlägereien oder Saufgelagen, sie geraten in Messerstechereien und landen im Gefängnis, wo die Wärter auch vor Folter nicht zurückschrecken.»
Kinder, die geschlagen werden, entwickeln sich als Erwachsene oft ebenfalls zu Schlägern. Dieses aus der Psychologie bestens bekannte Phänomen lässt sich heute wieder in Russland beobachten. Spätestens seit dem Ausbruch des Krieges wird die Gesellschaft wieder durchmilitarisiert. Schon im Kindergarten werden die Kleinen gedrillt. Später lernen sie patriotische Gesänge und schreiben Briefe an die Helden an der Front.
«Der Militarismus ist nur die Fortsetzung dieser traditionellen Männlichkeit. Im Kindergarten bauen die Kinder Panzer aus Streichholzschachteln, wie sie das bereits zu Sowjetzeiten taten.»
Aus Inna Hartwichs «Friedas Enkel»
Obwohl der Kommunismus sich die Gleichheit aller Menschen auf die Fahnen geschrieben hatte, war dies, was das Verhältnis der Geschlechter in Russland betrifft, ein Hohn. Frauen werden zwar zur Arbeit angehalten – sie gelten sonst als Schmarotzerinnen –, doch das hat rein gar nichts mit Gleichstellung oder Emanzipation zu tun. Hartwich zitiert den Historiker Alexander Dallin, der die sowjetische Frau wie folgt definiert hat: «Ein Wesen zwischen Kuh und Maschine.»
Es ist kein schönes Bild, das Hartwich von der russischen Gesellschaft in diesen Tagen zeichnet. Es lässt auch wenig Hoffnung, dass sich daran bald etwas ändern könnte. Die Versuche mit Demokratie und Marktwirtschaft in den Neunzigerjahren waren für die überwiegende Mehrheit der Russinnen und Russen eine geradezu traumatische Erfahrung, die zu wiederholen sie nicht im Sinn haben. Sie leben nach der Devise: «Halt dich von der Politik fern und halt den Mund. Die da oben werden es schon richten.»
Es gibt einen zynischen Witz über die für unsere Vorstellung unbegreifliche Obrigkeits-Gläubigkeit der Russen. Er geht wie folgt: «Drei Bauern stehen bis zur Nasenspitze in der Sch… Da sagt der eine: Warum wehren wir uns eigentlich nicht? Die anderen zwei erwidern: Psst! Du machst Wellen.»
In diesem Witz steckt leider mehr als nur ein bisschen Wahrheit. Das schwer misshandelte «Kind» Russland hat im Prozess der Zivilisation noch viel aufzuholen.