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Frauen der Geschichte

Blockade von Leningrad: Wie Kyra Petrovskaya 900 Tage Hölle überlebte

Kyra Petrovskaya (1918–2018).
Kyra Petrovskaya (1918–2018).bild: rarehistoricalphotos
Frauen der Geschichte

Die Krankenschwester von Leningrad: Wie Kyra 900 Tage Belagerungshölle überlebte

Vor 80 Jahren wurde Leningrad (heute St.Petersburg) rund 900 Tage lang von deutschen Truppen belagert. Das Ziel: die Bevölkerung aushungern lassen. Über eine Million Menschen starben. Kyra Petrovskaya überlebte. Das ist ihre Geschichte.
08.09.2021, 17:0110.09.2021, 06:41
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«Lasst diese Geschichte für immer in unseren Herzen leben,
für immer gehört!
Möge ihr Andenken unser Gewissen sein.»
Yuri Voronov, Leningrader Dichter

Am 8. September 1941 erobert die Wehrmacht Schlüsselburg am Ufer des Ladogasees und unterbricht die Landverbindung nach Leningrad. Die Stadt in der Newabucht, am Ostende des finnischen Meerbusens, dieser schöne, geometrisch entworfene Ort mit seinen Kanälen, seinen 2300 Palästen, Prunkbauten und Schlössen, den Peter der Grosse einst auf dem Sumpf erstehen liess, jenes Fenster nach Europa, war geschlossen worden. Die Deutschen hatten Leningrad mit dem Ziel umzingelt, dessen Bevölkerung systematisch aushungern zu lassen.

Die deutsche Invasion und die Blockade von Leningrad, 1941.
Die deutsche Invasion und die Blockade von Leningrad, 1941.bild: ronald wayne/watson

Diejenigen, die die Hölle, die nun folgte, überleben würden, taten dies allein dank einer Eisstrasse, die über den Ladogasee führte und über die die Rote Armee die eingeschlossenen Bewohner versorgte. Doroga schisni – die Strasse des Lebens.

Das Eis beginnt bereits zu schmelzen: Frühling auf der Strasse des Lebens, April 1943.
Das Eis beginnt bereits zu schmelzen: Frühling auf der Strasse des Lebens, April 1943.bild: wikimedia

Seit dem 8. September fielen auch die Bomben. Bis zum Ende der Blockade am 27. Januar 1944 würden es 102'520 Brandbomben und 4653 Sprengbomben sein.

Etwa 1,1 bis 1,2 Millionen Menschen würden bis dahin tot sein. Die meisten von ihnen verhungert.

Der erste Winter brachte Temperaturen von 40 Grad unter null. Da floss kein Strom mehr und kein Wasser. Da fuhren keine Busse, kein Auto. Da war kein Licht, das die Nacht erhellte. Die Stadt stand still, begraben unter Schneemassen, die bereits den zweiten Stock der Gebäude erreichten. Und die Stadt schwieg. Das Lauteste waren die Kufen der Kinderschlitten, wenn sie über die eisigen Strassen gezogen wurden. Sie schienen für die geschwächten Bewohner zu schreien, die es nicht mehr konnten. Sie wehklagten, drückten den ganzen Schmerz aus, den niemand auszudrücken imstande war. Sie sangen ihr trauriges Lied vom Leben oder dem Tod, je nachdem, ob sie Eimer voll dreckigem Newawasser oder eine Leiche transportierten.

Eine Frau zieht eine Leiche auf einem Schlitten den Newski-Prospekt hinunter, Leningrad, Februar 1942.
Eine Frau zieht eine Leiche auf einem Schlitten den Newski-Prospekt hinunter, Leningrad, Februar 1942. bild: slava katamidze collection

Die Stadt war zu einem einzigen grossen Friedhof geworden. Überall lagen die Toten, während die Lebenden wie Gespenster über sie hingweghuschten. Dünne, fahle Gespenster, die sich nicht mehr trauten, die sich gegenseitig beraubten – und, schenkte man dem düstersten aller Gerüchte Glauben, sich gegenseitig assen.

Kyra arbeitete als Krankenschwester im Militärspital No. 902, das in einem Schulhaus eingerichtet worden war. Jeden Tag kamen die Lastwagen mit den Verwundeten von der Front. Dann ging sie hinaus, leistete erste Hilfe, gab den Soldaten eine Decke. Drinnen war zur Zeit kein Platz. Die Gänge, die Betten, alles war belegt. Es war nicht so, dass sie sich nicht bereits an die Kältetoten gewöhnt hätte, es war nur besonders makaber, so kurz vor der Rettung, vor einem Krankenhaus liegend, sein Leben zu lassen.

Sie lief stets in der Mitte der Strasse nach Hause. So mussten die Angreifer aus der dunklen Ecke herauskommen, was ihr Zeit verschaffen würde, ihr Gewehr zu benutzen. Und es schützte sie vor dem ganzen Unrat, der von oben kam. Die Leute waren zu schwach, um ihre Eimer im Innenhof auszuleeren. Sie schmissen ihre Exkremente aus dem Fenster direkt auf die Strasse.

Kyra ging an einem zerbombten Wohngebäude vorbei, in dessen Inneres man nun ungehemmt hineinsehen konnte wie bei einem Puppenhaus. In einem der Zimmer stand ein Kinderflügel. Alles war noch da, nur die Puppen fehlten.

Abwehrfeuer in der Nähe der Isaakskathedrale während eines Luftangriffs auf Leningrad, 1941.
Abwehrfeuer in der Nähe der Isaakskathedrale während eines Luftangriffs auf Leningrad, 1941.bild: wikimedia

Dann sah sie es. Irgendetwas bewegte sich am Boden zwischen den Trümmern. Hatte man eines der Opfer übersehen?

«Ist da jemand?», fragte Kyra.
«Ja, ich, Shurik», antwortete eine dünne Kinderstimme.
«Bist du verletzt?», wollte sie weiter wissen.
«Mir ist kalt.»

Ein kleiner schmutziger Junge kam zum Vorschein, er mochte nicht älter als zehn Jahre alt sein. Sie nahm ihm den Puls, er raste. Shurik war fiebrig. Kyra nahm ihn mit zu sich nach Hause. Sie würden morgen weiter nach seiner Mutter suchen, sagte sie ihm.

Ob er Geschwister habe, fragte Kyra ihn auf dem Weg. Nein, gab er ihr zur Antwort. Aber seine Mutter habe ihm gesagt, er würde im Februar einen kleinen Bruder bekommen.

Jetzt war es November und so kalt wie noch nie. Vor dem Hauseingang stolperten sie beinahe über einen Körper. Es war schon der dritte diese Woche. Sie gingen hinauf in den vierten Stock. Kyra schloss die Tür auf, dann das Vorhängeschloss. Man musste seinen Vorrat vor den verzweifelten Nachbarn schützen.

Mit dem Grossen Sowjetischen Atlas entfachte sie das Feuer in ihrem kleinen Keramikofen. Er hatte sie treu durch ihre Schulzeit begleitet und jetzt, in ihrem 19. Lebensjahr, hielt er sie warm. Gemeinsam mit dem Holz ihres Bücherregals, das nun wieder zu flackern begann. Es war gutes Holz, Mahagoni, trocken und schwer.

Shurik sass still auf dem Sofa, die Augen schauten leer aus seinem dreckigen Gesicht. Mit Wasser konnte sie ihn nicht waschen, dafür war es viel zu kostbar. Man musste es vom Fluss holen, mit Eimern aus einem der Eislöcher schöpfen, und es danach auf dem Schlitten nach Hause ziehen. Eine gefährliche und anstrengende Arbeit, die der Junge gerade ausgeführt hatte, als die Bombe einschlug. Als er zurückkam, war sein Zuhause weg. Und mit ihm seine Mutter.

Beschaffen von Wasser aus einer gebrochenen Leitung, Leningrad, Januar 1942.
Beschaffen von Wasser aus einer gebrochenen Leitung, Leningrad, Januar 1942.bild: wikimedia

«Wir schminken dich mit Vaseline ab, wie einen Schauspieler nach seinem Auftritt!», sagte Kyra zu ihm, freudig über ihren Einfall. Doch der Junge zeigte keine Reaktion. Nur sein dünner Körper zittert vor sich hin.

Kyra siebte das Wasser und kochte es dann auf dem Feuer ab. Zwei Mal musste man das tun, so verschmutzt war die Newa. Erst jetzt konnte sie Tee machen damit. Sogar ein Stück Zucker hatte sie, sie hatte es aufgehoben für Neujahr.

Shuriks fettiges Gesicht glänzte im Kerzenlicht. Er war ein hübscher, blonder Junge. Kyra nahm die Kartoffel aus den Kohlen, zermatschte sie und streute das grobkörnige Salz darüber, dass der Hausmeister auf den Gehsteig zu streuen pflegte, damit das Eis schmolz.

Aber das war vor dem Krieg. Wortlos verschlang der Junge die Kartoffel. Immerhin hatte er noch Appetit.

Als er sich hingelegt hatte, deckte Kyra ihn mit ihrem Mantel zu. «Meine Mutter ist tot, ich weiss es», sagte er noch, bevor er in den Schlaf glitt.

Und er sollte recht behalten.

«Leutnant Petrovskaya! Sie sind fünf Minuten zu spät!», donnerte Kyras Chef. Mit ihrem militärischen Rang sprach sie Oberst Stern nur an, wenn er wütend war. Normalerweise benutzte er ihren Vornamen.

Der Grund für ihre Verspätung gefiel ihm ebenso wenig. Er lauschte Kyras Ausführungen über den kleinen Shurik und schloss dann: «Du darfst das Kind auf keinen Fall behalten!» Mit einem an der Front kämpfenden Vater würden ihn die Leute vom Zivilschutz abholen und aus der Stadt in Sicherheit bringen.

Shurik.
Shurik.bild: kyra petrovskaya, «shurik»

Dr. Stern war Anatomieprofessor an der Leningrader Universität gewesen, bevor der Krieg ausbrach. Er war mindestens schon 70 Jahre alt und hatte sich strikt geweigert, zusammen mit dem Rest der Universitäts-Mitarbeitenden evakuiert zu werden. Er wollte bleiben – und das neu eingerichtete Militärkrankenhaus leiten.

Er, der jahrelang als Lehrer gewirkt hatte, musste plötzlich wieder Patienten behandeln. Er war nun für die Leben von Hunderten von verwundeten Soldaten verantwortlich. Zusammen mit all den hastig ausgebildeten Krankenschwestern, wie Kyra eine war. Keine von ihnen hatte diesen Beruf gewählt, der Krieg hatte sie dazu gezwungen.

Kyra Petrovskaya in ihrer Leutnants-Uniform. Vor der Blockade war sie Scharfschützin in der Roten Armee.
Kyra Petrovskaya in ihrer Leutnants-Uniform. Vor der Blockade war sie Scharfschützin in der Roten Armee.bild: rarehistoricalphotos

Kyra war Schauspielerin. Jetzt aber stand sie Tag für Tag neben Dr. Stern im Operationssaal. Doch niemals mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit. Dafür sorgte Dr. Stern. Er wusste, dass das junge medizinische Fachpersonal an der Front beschäftigt war. Er machte das, was unter den gegebenen Umständen möglich war. Er gab den Frauen nach ihrer Schicht Anatomiestunden, was für alle zwei zusätzliche Stunden bedeutete. Niemand beklagte sich. Alle mochten Dr. Stern, der wie verkleidet aussah in seiner Uniform. Selbst das Gewehr hing an ihm wie ein übergrosses Spielzeug.

Alles, was er sich erlaubte, war ein kleiner Spaziergang im Tag, ansonsten verliess er das Krankenhaus nicht. Seine Frau, seine Tochter und seine drei Enkel hatte er bei einem Autounfall kurz vor dem Krieg verloren. Seine Familie war jetzt hier. Sie bestand aus dem Personal und den Verletzten, die man ohne Röntgengeräte, ohne Elektrizität behandeln musste. Anstatt Narkosemittel gab es Morphium und die Gipse wanderten vom einen Patienten zum nächsten. Die Schienen bestanden aus Brettern der ehemaligen Schulbänke.

«Jeder Idiot kann in einem gut ausgestatteten Krankenhaus arbeiten!», pflegte er zu sagen. Es sollte die Schwestern mit Stolz erfüllen, hier zu arbeiten. Mit Stolz und Dankbarkeit, denn an der Front standen den Kameraden bloss Zelte zur Verfügung. «Zelte! In dieser Kälte!»

An der Front waren die Feldkrankenschwestern tätig, die druzhinnizi mit ihren umgehängten Maschinenpistolen. Diese brauchten sie gegen die deutschen Scharfschützen, die auf sie schossen, wenn sie versuchten, die verwundeten Soldaten zu erreichen. Sie waren unverwüstlich, zäh. Und sie sahen auf die Spitalschwestern herab. «Schon mal einen Schützengraben von Nahem gesehen? Was wisst ihr schon vom wahren Krieg, ihr verwöhnten Stadtgören, ihr Feiglinge, die ihr euch mit euren Hochschulabschlüssen vor der realen Gefahr zu drücken verstandet.» Das schienen sie von uns zu denken.

Zumindest bevor die Deutschen die Stadt in den Würgegriff genommen hatten. Jetzt sahen sie, wie sich hier die Toten in den Strassen sammelten. Sie sahen die steif gefrorenen Leiber, die zerbombten Häuser. Und sie wussten, dass die Leute hier verhungerten. An der Front gab es wenigstens genug zu essen. Und so begannen die druzhinnizi damit, ihre Rationen mit den Spitalschwestern zu teilen.

125 Gramm Brot auf einer Wage, die tägliche Höchstmenge, die zu dieser Zeit an die Arbeiter vergeben wurde. Für Zivilisten und Kinder war es noch weniger.
125 Gramm Brot auf einer Wage, die tägliche Höchstmenge, die zu dieser Zeit an die Arbeiter vergeben wurde. Für Zivilisten und Kinder war es noch weniger.bild: tass

Valya war eine von ihnen. Ein Mädchen vom Lande und so stark, dass sie jeweils ganz allein einen Verletzten in den Empfangsraum trug. Sie brachte Kyra immer etwas mit, so begeistert war sie davon, eine echte Schauspielerin zu kennen. Kyra konnte ihr im Gegenzug überhaupt nichts anbieten. Valya war das gleichgültig. «Nach dem Krieg komm' ich jeden Abend ins Theater! Gratis!», lachte sie.

Heute kam sie nicht. Ein Schrapnell hatte sie getroffen. Ihr Paket kam trotzdem. Es enthielt zwei dicke Scheiben geräucherte Salami, eine Zwiebel, einen halben Schokoladenriegel und eine Handvoll Kandiszucker.

Es war auch der Tag, als dem Krankenhaus die Kerzen ausgingen. Nur noch eine Stunde bis Sonnenuntergang; sie mussten schnell arbeiten.

Als Kyra am Bett eines schwer verletzten Soldaten vorüberging, hielt er sie an der Hand zurück. Da, wo einmal seine Beine waren, ragten bloss entsetzlich zersplitterte Knochen aus verbranntem Fleisch. Die Patienten könnten die Kerzen doch selbst herstellen, meinte er. Viele seien nicht allzu schwer verwundet und würden sich bestimmt über eine sinnvolle Arbeit freuen.

Am Abend ging das Militärspital No. 902 in Massenproduktion. Aus stinkendem Speisefett und alten Verbänden fertigten die Soldaten Kerzen. Unteroffizier Nikolai Polivanov, der Mann mit der rettenden Idee aber lag auf dem OP-Tisch. Dr. Stern wies Kyra an, die aus den klaffenden Wunden herausgepickten Granatsplitter in einem Glas zu sammeln. «Ich habe noch nie einen Soldaten behandelt, der nicht sehen wollte, was ihn auseinandergerissen hat», sagte er.

Bild
bild: wikimedia

Als Dr. Stern am folgenden Morgen Shurik in Kyras Wohnung untersuchte, wusste er bereits, dass es zu spät war. Sie konnte den Jungen nicht mehr wegschicken. Er gehörte jetzt zu ihr. Mitsamt seiner Bronchitis, die in wenigen Tagen ausgeheilt sein würde, wenn sie ihn mit Kondensmilch und Haferflocken verpflegen würde, die Dr. Stern für den Hausbesuch mitgebracht hatte.

Auch Shurik würde bald im Krankenhaus arbeiten. In einem für ihn zurechtgeschnittenen Mantel würde er den Soldaten zu trinken geben, ihre Bettpfannen leeren, ihnen die Zeitung vorlesen und für sie Briefe schreiben. Bald würde der Junge, der so instinktiv zu helfen verstand, von allen geliebt.

Deutsche schwere Artilleriestellung hinter einer aus Eisblöcken errichteten Barriere zum Schutz vor dem eisigen Wind, Leningrad, Anfang 1942.
Deutsche schwere Artilleriestellung hinter einer aus Eisblöcken errichteten Barriere zum Schutz vor dem eisigen Wind, Leningrad, Anfang 1942.bild: ullstein

In jenen Tagen hörte Kyra zum ersten Mal von dem schmalen Uferstreifen, der noch in sowjetischer Hand geblieben war und über den nun Hilfe über den gefrorenen Ladogasee nach Leningrad kommen sollte. Eine Eisstrasse, die Essen in die Stadt rein-, und Kinder aus ihr herausbrachte. Eine Autostrasse quer über den schmalsten südlichsten Zipfel dieses gigantischen, 18'000 Quadratkilometer grossen Sees, in dem der Genfersee 31 Mal Platz findet.

Und nicht nur das. Mitte Dezember kündigte das Radio an: «Tichwin wieder in unserer Hand!» Die Rote Armee hatte die strategisch wichtige Stadt 216 Kilometer östlich von Leningrad zurückerobert. Durch sie führte die einzige Eisenbahnlinie, die das «Festland» – so nannten die wie Insulaner isolierten Leningrader den Rest der unbesetzten Sowjetunion – noch mit der Stadt verband. Die Gegenrichtung führte über Wologda und von dort weiter in den Ural.

Zudem hatten die Japaner inzwischen Pearl Harbour angegriffen. Für die Leningrader hiess das: Bald haben wir einen neuen, starken Verbündeten.

Mit dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. September 1941 weitete das Kaiserreich Japan den seit 1937 geführten Pazifikkrieg in den Zweiten Weltkrieg aus. Er war der Grund für den Kriegseintritt der USA.
Mit dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. September 1941 weitete das Kaiserreich Japan den seit 1937 geführten Pazifikkrieg in den Zweiten Weltkrieg aus. Er war der Grund für den Kriegseintritt der USA.bild: wikimedia

Das Radio war neben der Strasse des Lebens das Einzige, was den Leningradern das Gefühl gab, nicht ganz vergessen zu sein vom Rest des Landes. Und wenn keine Gedichte vorgelesen, keine Musik gespielt oder Ankündigungen gemacht wurden, hörte man die gleichmässigen Schläge eines Metronoms. Das Radio schwieg niemals.

An der Front – Kap Ossinowez

Der Kommandant der Leningrader Front verlangte mehr medizinisches Personal am See Ladoga. Fünf Schwestern und ein Doktor. Alle zwei Wochen würde gewechselt. Kyra war unter der ersten Gruppe. Sie zog ihren Schafshautmantel über ihre wattierte Baumwolljacke- und Hose, zwei Paar Wollsocken über ihre Füsse, darüber wiederum ihre Walenki, jene traditionellen russischen Filzstiefel, die für Temperaturen unter -30 Grad gemacht sind. Die Fellmütze mit Ohrenklappen – Uschanka genannt – vollendete ihren Kälteschutz. Sie küsste Shurik zum Abschied und liess ihn in den liebevollen Händen von Dr. Stern zurück.

Die Eishütte, die für die nächsten Tage ihre Schlafstätte war, lag im Kap Ossinowez, am Westufer des Ladogasees. Hier kamen sie an, all die Lastwagen und Pferdeschlitten, die vom Ostufer in Novaya Ladoga über die Eisstrasse aufgebrochen waren, um Leningrad zu versorgen.

Die Strasse des Lebens, 1941-42.
Die Strasse des Lebens, 1941-42. bild: ronald wayne

Kyra und ihre Kameradin Parascha zogen ihre Skis an und machten sich auf zu jener eisigen Pulsader, die ihre Heimatstadt am Leben hielt. Die Maschinenpistole hing über ihren Schultern, die Schlitten mit dem medizinischen Bedarfsmaterial sausten hinter ihnen her.

Die Deutschen wussten ganz genau, wo die Eisstrasse war. Sie bombardierten sie unaufhörlich. Die weisse Tarnfarbe, mit denen die Lastwagen und selbst die Waffen gestrichen waren, halfen nur wenig. Wurde einer getroffen, ging er in Flammen auf. Und selbst wenn die Laster unberührt blieben, sah man die langen Schatten jener weissen Karawane durch die Eiswüste ziehen.

Die Sonne stand zu dieser Jahreszeit nicht hoch.

Ein Verkehrslotse auf der Strasse des Lebens, deren offizielle Bezeichnung Militärstrasse 101 lautete.
Ein Verkehrslotse auf der Strasse des Lebens, deren offizielle Bezeichnung Militärstrasse 101 lautete.bild: rg.ru

Als Kyra die Flugzeuge hörte, schrie sie Parascha zu: «Weg von der Strasse!» Dann liess sie sich in den Schnee fallen. Die schwarzen Punkte am Himmel wurden immer grösser.

Die Bomben kreischten, bevor sie auf dem Eis einschlugen und riesige Fontänen Wasser in den Himmel schickten.

«Ich habe Angst! Mama!» schrie Parascha. Kyra kroch zu ihr, legte einen Arm um sie, während rund um sie herum alles zu explodieren schien. Das Eis zitterte. Parascha zitterte.

Einem pockennarbigen Gesicht gleich lag nun die Strasse vor ihnen, zerlöchert und übersät mit dutzenden von Kratern. Etliche Lastwagen brannten.

Kyra und Parascha fuhren zu den Verletzten. Ihre Arbeit begann. Noch bevor sie den letzten am Boden liegenden Soldaten erreichten, kam der nächste Angriff. Drei weitere folgten.

Parascha schrie nicht mehr.

Die Strasse des Lebens ermöglichte neben der Versorgung die Evakuierung von etwa einer Million Menschen, von Kunstwerken und Industrieanlagen.
Die Strasse des Lebens ermöglichte neben der Versorgung die Evakuierung von etwa einer Million Menschen, von Kunstwerken und Industrieanlagen.bild: rg.ru

45 Männer hatten sie an ihrem ersten Tag behandelt. Und als sie zurückkamen, war ihr Iglu voll von Verwundeten. Da lagen sie mit ihren Frostbeulen an Fingern, Füssen und Nasen, von der langen Fahrt in ihren ungeheizten Fahrzeugen. Die Schlitten, die sie evakuieren sollten, waren nicht gekommen.

Immerhin gab es hier zwei warme Mahlzeiten im Tag. Und sogar Fleisch. Olga Teleghina, ihr Kapitän, besuchte sie jeden Abend, brachte ihnen die Neuigkeiten von der Front und Briefe. Einmal kam einer von Shurik.

«Liebe Kyra,
Ich vermisse dich sehr. Ich bin einen Zentimeter gewachsen. Dr. Stern vermisst dich auch. Ich hoffe, du vermisst mich. Dein Shurik Nikanorov.»

Ganz unten hatte er einen Blumenstrauss hingemalt. Darunter stand: «Für dich. Im Sommer bringe ich dir einen richtigen.» Kyra hängte den Brief an die Wand der Eishütte.

In jener Nacht war es so stürmisch, dass Kapitän Teleghina bei den Schwestern übernachten musste. Im «gemütlichen Eispalast», wie sie es nannte. Das Iglu erinnerte sie an den Eispalast, der einst für Zarin Anna auf der Neva gebaut worden war.

Anna war eine Enkelin Peter des Grossen, und obwohl sie in Russland geboren worden war, hatte sie durch ihre Heirat mit dem Herzog von Kurland ihr ganzes Leben fernab ihrer Heimat zugebracht. Sie sprach Deutsch und brachte ihre deutschbaltischen Berater mit, als sie, inzwischen verwitwet, 1730 den russischen Thron bestieg. Vor allem aber brachte sie ihren Günstling Ernst Johann von Biron mit, der fortan alle Regierungsgeschäfte für sie übernahm. Ein ruchloser, machtgieriger Mann, der eine eigene Geheimpolizei aufstellte, um sich die immer zahlreicher werdenden Feinde vom Leibe zu halten. Im Namen der Zarin soll er 12'000 Verschwörer hingerichtet und 20'000 weitere nach Sibirien verbannt haben. Ansonsten war er damit beschäftigt, die schnell gelangweilte Anna mit Maskenbällen und Banketten zu unterhalten.

Zarin Anna im Krönungsornat, gemalt von Louis Caravaque. Sie regierte Russland von 1730–1740.
Zarin Anna im Krönungsornat, gemalt von Louis Caravaque. Sie regierte Russland von 1730–1740.bild: wikimedia

Und so verstieg sich Biron eines Winters auf die Idee, einen ganz und gar aussergewöhnlichen Karneval für die Zarin auszurichten: Dieser sollte in einem Palast mitten auf der Newa stattfinden und aus Eisblöcken gebaut sein. Hunderte von Sklaven setzten seine Vision um. Die Möbel, die Kerzenständer, ja selbst die den Gästen servierten Früchte und Süssigkeiten waren aus Eis gefertigt und so täuschend echt, dass selbst die Zarin kurz versucht war, in einen Pfirsich zu beissen. Sie mochten alle herzhaft darüber lachen, wussten sie doch, dass das richtige Bankett nur Minuten entfernt im Winterpalast stattfinden würde.

Anlass für den Karneval war die Hochzeit der beiden Lieblingszwerge der Zarin. Aus allen Ecken des Landes kamen die Menschen, selbst Elefanten hielten vor dem Eispalast, auf ihren Rücken sassen, in aufwändig verzierten Zelten, orientalische Prinzen. Die Zwerge wohnten auf ihren Eisthronen dem Ballett bei, das nun zu Ehren ihrer Vermählung aufgeführt wurde. Sie waren an jenem Abend die Eismajestäten!

Links sitzt das frierende Zwergen-Ehepaar auf seinem Eisthron, die herumalbernde Frau im goldenen Kleid ist Zarin Anna. Das Gemälde stammt von Valery Jacobi, 1878.
Links sitzt das frierende Zwergen-Ehepaar auf seinem Eisthron, die herumalbernde Frau im goldenen Kleid ist Zarin Anna. Das Gemälde stammt von Valery Jacobi, 1878.bild: wikimedia

Danach machte sich die Festgesellschaft auf zum Winterpalast. Die Zwerge wurden in ihren Seidenkostümchen auf den Eisblöcken sitzengelassen, während Biron Wachen vor dem sonst leergeräumten Palast aufstellte. Die Feierlichkeiten sollten am nächsten Tag hier weitergehen.

Doch als man am Morgen darauf den Eispalast betrat, war das Zwergenpaar erfroren.

Das Netz der Eisstrassen wuchs unaufhörlich. Und mit ihrem Ausbau intensivierten die Deutschen auch ihre Angriffe. Tarnung hatte man gänzlich aufgegeben. Es war bloss noch pures Glück, wer es schaffte.

Kapitän Teleghina schaffte es nicht. Auf ihrem Weg zurück auf ihren Posten wurde ihr Konvoi angegriffen. Sie wurde mitsamt dem Schlitten, dem Pferd und den jungen Schwestern vom See verschluckt.

Ihr folgte Parascha. Eines Tages ertrug sie die Bomben nicht mehr und sie rannte, rannte wie eine Wildgewordene in Panik davon. Ein Ski hing ihr noch am Fuss, der Schlitten glitt willenlos hinter ihr her, bis die Schüsse der Tiefflieger sie durchsiebten. Ein roter Fleck breitete sich unter ihr aus. Als der Angriff vorbei war, kroch Kyra zu ihr. Sie war bereits tot.

Auf ihrem Weg zurück nach Leningrad hörte Kyra von den Flüchtlingen, dass die Essensrationen in der Stadt gestiegen seien. Eine Extrascheibe Brot für alle!

Doch die Frau, die ihr davon erzählte, teilte Kyras Begeisterung nicht. Für viele sei es schon zu spät. Ein paar Gramm mehr Brot würde die bereits von Dystrophie Befallenen auch nicht mehr vor dem Hungertod retten. Aber immerhin. Es hob die Moral.

Die kleinsten Rationen bekam die Intelligenzija, die Schriftsteller, Musiker, Schauspieler, Maler und all die anderen Künstler, die nicht an der Propagandaarbeit beteiligt waren. Im Krieg wurden sie von der Regierung als weniger wertvoll als die Arbeiter erachtet. Sie waren es nun, die es nicht mehr zu Fuss in die stazionari schafften, die neu eröffneten Verpflegungsstationen. Man musste sie auf Liegen herbringen.

Leningrader Philharmonie-Orchester, 1941. Als Kyra es im April 1942 bei seinem ersten Konzert seit Kriegsbeginn besucht, besteht es noch aus 20 Musikern; 95 Prozent war weggestorben, an der Front gefa ...
Leningrader Philharmonie-Orchester, 1941. Als Kyra es im April 1942 bei seinem ersten Konzert seit Kriegsbeginn besucht, besteht es noch aus 20 Musikern; 95 Prozent war weggestorben, an der Front gefallen oder in der Stadt verhungert. Manche von ihnen waren so geschwächt, dass sie auf ihre Stühle getragen werden mussten. bild: inyourpocket

Sneschinka

Das neue Jahr brachte neue Bomben. Und weil Kyra durch das gute Essen der Front kräftig zurückgekehrt war, bekam sie eine neue Zusatzaufgabe: Die Toten in den Hof des Krankenhauses zu tragen, damit sie abgeholt werden konnten. Sie sah, wie die Männer die Leichen in ihren Laster warfen, eine Blache drüberlegten und dann den Boden, auf dem jene gelegen hatten, mit Terpentin bespritzten. Jetzt wusste sie, weshalb die ganze Stadt danach roch. Es wurde als Desinfektionsmittel benutzt.

Die Männer würden die Toten zu den Gräben karren, die in den Aussenbezirken ausgehoben worden waren. Andere wurden in den Strassen aufeinandergeschichtet. Überall sah man sie, diese schaurigen, schiefen Totentürme, bis sie von den Flammen verzerrt wurden.

Kyra hatte sich kaum wieder an Shuriks freudenreiche Anwesenheit gewöhnt, da bekam sie bereits einen neuen Marschbefehl. Es half nichts, zu diskutieren. Befehl war Befehl.

Sowjetische Scharfschützen in Leningrad, 1941.
Sowjetische Scharfschützen in Leningrad, 1941.bild: tass

Dieses Mal wurde sie im Umschlagsort Kabona gebraucht, am Ostufer des Ladogasees. Sie kam bei einer Familie unter, einer Grossmutter mit ihren neun Enkeln, die sich jeweils darum stritten, wer sich am Abend, wenn sie nach ihrer Schicht im Spital zurückkehrte, auf ihren Schoss setzen durften. Es war ein ganz anderer Einsatz als der in Ossinowez, viel wärmer, erfüllt von Kinderlachen und weniger gefährlich.

Und hier gab es sogar noch mehr Verpflegung. Sie würde Shurik haufenweise Dosen mit Fleisch und Fisch und reichlich Schokolade mitbringen können. Doch Kyras Einsatz zog sich hin. Es war bereits Mitte Februar.

Inzwischen aber war die neue Eisenbahnstrecke Voibokalo-Kabona fertiggebaut worden – und dies direkt unter der Nase der deutschen Streitkräfte! Nun konnten die Güter vom Festland mit der Eisenbahn direkt zum Seeufer transportiert und von dort auf die Laster und Schlitten umgeladen werden.

Für die 19'000 Versorgungsarbeiter, die dieses Wagnis auf sich genommen hatten, gab es zur Feier einen Extra-Vodka. Die Kinder bekamen Päckchen mit Süssigkeiten, die nur die Kleinsten behielten. Alle anderen schickten sie den «heroischen Kindern von Leningrad».

Im Hintergrund die Peter-und-Paul-Festung, Leningrad, 1942.
Im Hintergrund die Peter-und-Paul-Festung, Leningrad, 1942.bild: tass

Und als wäre dieser Abend nicht bereits feierlich genug, fand Kyra draussen vor dem Spital eine Hündin. Einen wunderschönen Husky, der ihr vertrauensvoll seine zwei Welpen brachte.

Die Soldaten waren ausser sich vor Freude. Kyra schenkte einen Welpen den Kindern, den anderen würde sie Shurik nach Hause bringen.

Erst schien ihr diese Idee völliger Wahnsinn. Sie konnte doch nicht einen Hund in eine Stadt mitnehmen, in der die Menschen verhungerten. Doch sie konnte. Sneschinka, die wuschelige kleine Schneeflocke, wie sie das Hündchen nannten, sollte bald das am wohlernährteste Wesen im ganzen Militärspital No. 902 in Leningrad sein.

Sneschinka brachte den verletzten Soldaten ein Stück Frieden. Und Shurik schwor sogleich, seine neue Freundin niemals alleine zu lassen. Wie zum Dank leckte sie sein Gesicht.

«Ich werde die ganze Zeit über Sneschinka wachen, nicht dass sie von jemandem gestohlen und verkauft wird – wegen ihres Fleisches.»
Shurik

Der Junge wusste ganz genau, was in der Stadt vorging. Dass man auf dem Schwarzmarkt alle Arten von Fleisch bekommen konnte. Von Ratten, Katzen, Hunden, Menschen. Das einzig Kindliche an ihm war die schonungslose Ehrlichkeit, mit der er jene grausamen Wahrheiten aussprach.

Sowjetische Soldaten bedienen ein Flugabwehr-Maschinengewehr während der deutschen Luftangriffe, Leningrad, 1942.
Sowjetische Soldaten bedienen ein Flugabwehr-Maschinengewehr während der deutschen Luftangriffe, Leningrad, 1942.bild: tass

Bei Polivanov, dem Mann mit den Beinen, die fast keine mehr waren, hatten sich die Venen entzündet. Er lag nun in einem Privatzimmer – dem ehemaligen Wandschrank des Hausmeisters. Der kleine Raum liess sich gut warm halten. Die Wände waren tapeziert mit Shuriks Zeichnungen. Er sei sein persönlicher Pfleger geworden, liess Plivanov Kyra wissen: «Shurik liest mir Zeitung vor und redet mit mir. Aber vor allem hört er mir zu. Ich rede sehr viel». Sein Lachen mündete in einem wüsten Husten. Shurik setzte ihm den Becher mit warmem Wasser an die Lippen.

Polivanovs Heimat lag am Fluss Kama, dem grössten Nebenfluss der Wolga. Dort wohnte er mit seiner Frau und seinen drei Kindern mitten im Wald.

Er fällte Holz, dass er dann auf Flossen über den Fluss transportierte. Er erzählte Shurik von seinen wochenlangen Reisen auf der Kama, wie sie Kabinen auf die Flosse gebaut hatten, und darin alle Platz fanden, seine Frau und seine Kinder, selbst die Hühner, die Hunde und das Kätzchen begleiteten ihn. Er erzählte, wie sie da sassen vor ihrem Lagerfeuer, friedlich auf dem Fluss treibend, Vodka tranken und Lieder sangen.

«Was für ein Leben!», rief er aus, aber es klang bitter. Er wusste, dass er als Krüppel zurückkehren würde.

Shurik mochte Polivanov sehr. Er würde ihn an seinen Vater erinnern, meinte er. An seinen Vater, der in der Novemberoffensive nahe Tichwin gefallen war. Kyra wusste, dass sie es dem Jungen sagen musste. Dass sie es ihm nicht mehr länger verschweigen konnte.

Sie weinte und Shurik bat sie, damit aufzuhören.

«Wenn der Krieg vorbei ist, wird es in Leningrad keinen einzigen Menschen geben, der nicht jemanden verloren hat.»
Shurik

Da war sie wieder. Die schonungslose Wahrheit.

Russische Waisenkinder, deren Eltern bei der Belagerung Leningrads getötet wurden, werden im Kinderheim Nr. 9 betreut, Leningrad, Januar 1946.
Russische Waisenkinder, deren Eltern bei der Belagerung Leningrads getötet wurden, werden im Kinderheim Nr. 9 betreut, Leningrad, Januar 1946.bild: bettmann

Shurik war nun eine Vollwaise. Genau wie Kyra. Ihr Vater, ein hochdekorierter Pilot der kaiserlich-russischen Luftwaffe, wurde von einem bolschewistischen Erschiessungskommando hingerichtet, als sie sieben Monate alt war. Den Rest ihrer männlichen Familienmitglieder verlor sie im nachfolgenden Russischen Bürgerkrieg. Ihre Mutter starb kurz vor der Blockade in Leningrad, sie wurde beim Ausheben eines Panzergrabens von einem deutschen Flieger getroffen.

«Feuer!»

Mit den ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen kam auch die Elektrizität zurück ins Spital, zumindest für ein paar Stunden im Tag. Die Leningrader erhielten noch einmal eine Erhöhung ihrer täglichen Essensration, nun gab es auch Zucker und Butter und manchmal sogar Fleisch.

Nur Früchte und Gemüse fehlten noch immer. Und so fingen die Bewohner auf Geheiss des Hauptquartiers an, Gemüse in den Parks anzubauen. Für die dringend notwendige Vitamin-C-Zufuhr wurden die Frauen und Kinder in den Wald geschickt, um Kiefernadeln zu sammeln. Mit heissem Wasser aufgebrüht wurden jene grünen Stacheln zu wahren Vitamin-C-Bomben.

Kohl statt Rosen am Isaaksplatz, Leningrad, Herbst 1942.
Kohl statt Rosen am Isaaksplatz, Leningrad, Herbst 1942.bild: inyourpocket

Es waren auch die Frauen und Kinder, die nun die Stadt von allem Unrat befreiten. In Sektoren über ganz Leningrad aufgeteilt räumten sie die Trümmer weg, das vom Schmutz ganz schwarz gewordenen Eis und auch die Leichen, die darunter zum Vorschein kamen.

Räumen einer Strasse von dickem Eis und Schnee, Leningrad, März 1942.
Räumen einer Strasse von dickem Eis und Schnee, Leningrad, März 1942.bild: wikimedia

Das meiste davon landete im Fluss. Unerträglich würde der Gestank sein, wenn bald alles schmolz. Aus Angst vor einer Pandemie wurden alle Bewohner gegen Typhus, Cholera und die Pocken geimpft. Diejenigen, die zu schwach waren, eines der Zentren dafür aufzusuchen, erhielten ihre Dosis zuhause von einer Krankenschwester.

Dann kamen die Flugzeuge zurück. Nach wochenlanger Abwesenheit waren sie plötzlich wieder da – und mit ihnen die Bomben.

Leningrader verlassen ihre zerbombten Häuser, Dezember 1942.
Leningrader verlassen ihre zerbombten Häuser, Dezember 1942.bild: wikimedia

Kyra stand neben Dr. Stern im Operationssaal, als sie das immer lauter werdende, pfeifende Geräusch hörte. Dann ein krachender, donnernder Aufprall. Eine Explosion. Das ganze Gebäude wackelte, das Licht ging aus, die Fenster zerbarsten und flogen als Millionen messerscharfer Splitter durch die Korridore.

«Feuer!», schrie jemand. Alles schrie. Alles rannte. Auf der Treppe des Militärspitals No. 902 starb an jenem Apriltag die Kameradschaft. Der nackte Überlebensinstinkt trieb die Soldaten hinunter zum Schutzraum, sie stiessen, schlugen und zertrampelten einander, jeder in seinem eigenen Wahn.

Kyra wurde von der Lawine mitgerissen und in den Bunker hineingeflutet. Sie schaffte es bis zur Mitte des Raumes, dorthin, wo der Wandschrank hing. Sie griff rein, nahm die Taschenlampe raus und hielt sie unter ihr Gesicht.

«Kameraden, ihr seid alle sicher hier. Bleibt wo ihr seid, bewegt euch nicht.»
Kyra

Der einbeinige Kommissar Churakov lag tot auf der Treppe. Er hatte die panischen Männer zu stoppen versucht und schoss dafür in die Luft. Er hatte keine Chance.

Weiter unten lagen drei weitere. Auch sie wurden zu Tode getrampelt. Der Westflügel mit seinen zwei Stationen war nicht mehr da. 60 Betten standen darin, alle belegt.

Der jüngste Held von Leningrad

«Ich wusste, wenn eine Bombe eingeschlagen hat, ist das Schlimmste vorüber. Und alles ging so schnell. Ich hatte keine Zeit, Angst zu bekommen. Ich war zu beschäftigt.»
Shurik

Shurik war sich seines Heldenmutes überhaupt nicht bewusst. Er hatte die Patienten von Station fünf und sechs in aller Ruhe über die Hintertreppe hinab in den Schutzraum geführt. Keinen von ihnen ergriff die Panik. Und zwei der Soldaten stützten auf Shuriks Anweisung den noch immer gehunfähigen Polivanov, damit auch er heil die Stufen hinunterkam.

Der Junge brachte an jenem Tag 41 Männer in Sicherheit.

Zu seinen Ehren sassen nun, eine Woche nach dem Anschlag, alle bereits im grossen Saal. Selbst Leute von der Zeitung waren da und Militärfotografen. Vorne am Tisch wartete Kommissar Kozhin vom Hauptquartier. Über den Köpfen war in grossen Lettern auf einem Banner zu lesen: «Lang lebe Shurik, der jüngste Held von Leningrad!»

Kyra kämpfte sich in die vorderste Reihe vor, da wo Polivanov bereits lächelnd auf seiner Pritsche lag.

Als die Tür aufging, bliesen alle Soldaten gleichzeitig in ihre mit Zigarettenpapier überzogenen Taschenkämme. Die Nationalhymne wurde wohl nie mit so vielen falschen Tönen gespielt wie an diesem Tag. Vielleicht aber auch nie mit mehr Inbrunst.

Shurik war sichtlich verwirrt und erst, als Dr. Stern ihn an die Hand nahm und mit dem Finger auf den an der Decke hängenden Schriftzug deutete, wurde dem Jungen allmählich klar, dass das ganze Getöse wohl seinetwegen losgebrochen war. Er errötete.

Und als der fremde Kommissar ihm statt Dr. Stern salutierte, war Shurik bereits ganz blass geworden. Dann hob Kozhin die Hand und die Katzenmusik verstummte.

«Shurik Nikanorov», sagte er mit offiziell klingender Stimme, «im Namen des Kommandanten der Leningrader Front bin ich autorisiert, dir eine Medaille für deinen Mut zu überreichen. Za Boyevoye Otlichiye.»

Zwei Wehrmachtssoldaten beobachten die deutschen Angriffe auf die russische Verteidigungslinie, Leningrad, 1941.
Zwei Wehrmachtssoldaten beobachten die deutschen Angriffe auf die russische Verteidigungslinie, Leningrad, 1941.bild: ullstein bild

Polivanovs Augen waren voller Tränen, als der Kommissar dem Jungen die Medaille ansteckte. Er hatte die Adoptionspapiere bereits vor ein paar Tagen unterschrieben. Er würde Shurik zu sich nach Hause mitnehmen. Mit ihm und seinen neuen Geschwistern auf dem Floss fahren. Er würde zur Schule gehen und ein schönes, normales Leben haben.

Kyra war von ihrem Schwesterndienst entbunden worden. Das Komitee für Künste sah für sie eine andere Aufgabe vor: Die Soldaten an der Leningrader Front mit ihrem Schauspiel einen Moment lang den Krieg vergessen zu lassen. Sie hatte sich danach gesehnt, endlich wieder auf einer Bühne zu stehen, aber der Gedanke an den Abschied von Shurik war ihr unerträglich.

Doch der Junge hätte sowieso nicht bei ihr bleiben können. Sie war eine unverheiratete Frau. Es war das Beste so.

Shuriks Verwirrung über die Auszeichnung hielt bis nach der Zeremonie an. Er schaute hinab auf seine Medaille und meinte dann niedergeschlagen, dass er doch überhaupt kein Held sei. Er habe kein Flugzeug runtergeschossen, keinen Nazi getötet. Dr. Stern aber gab ihm zur Antwort:

«Was du an jenem Tag getan hast, war 41 Männer in Sicherheit zu bringen, das war viel wichtiger als einen Nazi zu töten. Ohne deine Hilfe könnten viele dieser Männer heute tot sein. Du verdienst diese Medaille. Trage sie mit Stolz.»
Dr. Stern

Shuriks Gesicht hellte sich auf. «Sie ist wunderschön!»

Nach dem Krieg

Der Schriftzug: «Bürger! Hier ist es bei Bombenangriffen höchst gefährlich», wird übermalt, der Krieg ist vorbei, Leningrad, nach Ende der Blockade Ende Januar 1944.
Der Schriftzug: «Bürger! Hier ist es bei Bombenangriffen höchst gefährlich», wird übermalt, der Krieg ist vorbei, Leningrad, nach Ende der Blockade Ende Januar 1944.bild: inyourpocket

Das Buch, auf dem dieser Artikel beruht, wird Kyra 1970 in den USA schreiben, inzwischen mit einem Amerikaner verheiratet und bereits Grossmutter. Ihre jüngste Enkelin Kyra wird dann im Alter sein, in dem Shurik war, als sie ihn in den Trümmern seines zerbombten Zuhauses fand.

«Ich schreibe Bücher, umgeben von einer liebevollen Familie und Freunden, meinen Hunden und Katzen. Jene Vergangenheit in Leningrad scheint jetzt – inmitten meines amerikanischen Lebens – fast unwirklich.

Aber ich möchte diese traurigen Tage nicht vergessen. Ich möchte, dass meine Enkelkinder und alle, die dieses Buch lesen, von der Leningrader Blockade erfahren. Ich möchte, dass sie alle diese 900 Tage miterleben und ihr eigenes Leben in einem friedlichen Land zu schätzen wissen.»

Kyra Petrovskaya Wayne

Kyra stirbt 99-jährig im Jahr 2018 – und hinterlässt neben unzähligen Büchern einen Sohn und fünf Enkelkinder.
Kyra stirbt 99-jährig im Jahr 2018 – und hinterlässt neben unzähligen Büchern einen Sohn und fünf Enkelkinder.bild: wikimedia
Quellen und weitere Hintergrund-Artikel:
Das für den Artikel verwendete Buch: Kyra Petrovskaya Wayne: Shurik – A true story of the Siege of Leningrad.
Es ist leider vergriffen.

Wer sich noch mehr für die politischen Hintergründe
der Leningrader Blockade interessiert, dem seien hier zwei Artikel ans Herz gelegt:
Aug. 2019 in der NZZ erschienen: Wie viel Schuld trägt Stalin an den vielen Toten der Belagerung Leningrads?
Sept. 2020 in der NZZ erschienen: Leningrads Belagerung in der historisch-literarischen Erinnerung

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25 Kommentare
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Kommissar Rizzo
08.09.2021 19:14registriert Mai 2021
Was diese Menschen durchmachen mussten, können wir uns nicht mal im Ansatz vorstellen. Solche Geschichten dürfen nie vergessen werden.
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eyeries
08.09.2021 18:31registriert Juni 2018
Toller Artikel! Weiss man, was aus Shurik nach der Adoption geworden ist oder habe ich das überlesen?
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Troxi
08.09.2021 18:23registriert April 2017
War das starker Tobak. Unvollstellbar, diese Zeilen und unglaublich wie gewisse Leute ab dem ganzen Wahnsinn trotzallem nur funktionieren. Wer es nicht kann steht auf und wartet bis er/sie niedergemäht wird, wie auch in diesem Artikel zu lesen war. Shurik erinnert an einen Amerikaner, der ganz alleine seine verwundeten Kumpanen bei einer Schlacht vor Japan vor dem zurücklassen gerettet hat und ihnen so ein zweites Leben schenken konnte. Das sind für mich die wahren Helden der Kriege und nicht wer am meisten erledigen konnte.
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