Am 30. Oktober 1887 reiste Hans Kienholz, Leiter der drei Jahre zuvor gegründeten Schnitzlerschule in Brienz, der heutigen Schule für Holzbildhauerei, nach Italien. Die Weiterbildungsreise dauerte bis zum 4. Dezember und führte über Mailand, Genua, Pisa, Rom, Siena nach Florenz und von Bologna zurück nach Brienz. Im März 1888 erstattete er dem Regierungsrat des Kantons Bern Bericht und bedankte sich für die finanzielle Unterstützung.
Anders als viele Bildungsreisende der Zeit, die mit dem Cicerone von Jacob Burckhardt (1818-1897) oder dem Baedecker im Gepäck die Kultur Italiens in Musse entdeckten, war die Route des Lehrers aus Brienz minutiös geplant, galt es doch, die Zeit gezielt für «künstlerische[n] Einzelheite[n]» einzusetzen, die «besondere Aussicht auf Verwerthung in didaktischer Richtung boten».
Auf der Suche nach zeitgenössischen Vorbildern für den Unterricht wurden nun neben den historischen Monumenten auch moderne Architektur besichtigt und kunstgewerbliche Vorbild-Sammlungen und Fachschulen besucht. Diese Institutionen entstanden im Zusammenhang mit der Reform des Kunstgewerbes, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von England ausgehend Europa erfasst hatte.
Diese Entwicklung war in der Industrialisierung begründet und der damit verbundenen Massenproduktion von Gebrauchsgütern, deren Gestaltung kritisiert wurde und deren kostengünstige Produktion für die Handwerker eine Konkurrenz darstellte. 1884 hatte der Bundesrat deshalb die Subventionierung der gewerblichen Ausbildung beschlossen wie beispielsweise der Schnitzlerschule in Brienz. Von der ästhetischen Erziehung der Schnitzer erhoffte sich die Region im Berner Oberland zeitgemässe Ware und wirtschaftlichen Erfolg.
Die erste Reise von Kienholz in seiner Funktion als Hauptlehrer hatte nicht nach Italien geführt, wo die Industrialisierung langsam einsetzte und die Ausbildung mehrheitlich weiterhin im traditionellen Werkstattbetrieb verlief. Stattdessen richtete sich von der deutschsprachigen Schweiz aus der Blick nach Deutschland und noch häufiger nach Österreich, dessen Unterrichtssystem unter der Führung des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien als vorbildlich galt. Beim Besuch dort waren Kienholz 1886 ganz besonders die Schnitzereien des weltbekannten Luigi Frullini (1839-1897) aus Florenz ins Auge gefallen. Er kannte dessen Arbeiten bereits aus dem Unterricht in Brienz von Fotografien und konnte sie nun im Original studieren.
Ein Jahr später stand er in der Via Santa Caterina in Florenz vor Luigi Frullinis Haus, wo er freundlich empfangen wurde. «Wie in Rom der Antike und in Siena dem Mittelalter, so habe [ich] hier hauptsächlich der modernen Holzschnitzerei, Möbel- u. Bildhauerfabrikation meine Hauptaufmerksamkeit zugewandt, für welche ja Florenz weltberühmt ist», fasste Kienholz den sechstägigen Aufenthalt in Florenz zusammen. Mit opulenten Raumausstattungen hatte Frullini in Europa und den USA den Ruf von Florenz als Zentrum für die Holzschnitzerei gesichert.
Schon über die Weltausstellung von Paris 1878 hatte Johann Abplanalp, Lehrer an der damals in Brienz noch auf den Zeichnungsunterricht ausgerichteten Schule, in der Verwaltungsratssitzung des Oberländer Schnitzlervereins berichtet, dass Frullinis Arbeiten «förmlich weggeschnappt» wurden. Er beklagte sich über die exorbitanten Preise; für «eine Füllung eines Schrankes» hätten 10’000 Franken bezahlt werden müssen und für «kleine Reliefs mit Kindergruppen» 600 bis 1200 Franken. Als Vorbilder im Unterricht würden sie «fast mit Gold aufgewogen» stellte auch Hans Kienholz fest.
Im Historismus wurden die toskanischen Meister für ihre technischen und künstlerischen Fähigkeiten bewundert – Qualitäten, die sie nach damaliger Auffassung der Nähe zu den Originalen aus der Renaissance verdankten. Solche Schnitzereien schienen die Grenzen zwischen bildender Kunst und angewandter Kunst aufzuheben, weshalb sie im Unterricht besonders als Modell dienen konnten. Denn von der Annäherung von Kunst und Kunsthandwerk versprachen sich die Reformer die formale Qualität industrieller Produkte zu verbessern.
Kritisiert wurde allerdings der «Naturalismus» üppiger Schnitzereien der vor allem für eine wohlhabende Kundschaft bestimmten Arbeiten. So stellte auch Abplanalp fest, dass sich Frullini vermehrt der «naturalistschen Richtung zuwende» und dass «der Schrank nur wegen der Füllung da zu sein» scheine. Es überrascht nicht, dass in Brienz diesem «naturalistische(n) Verzierungseifer» mit einer zwiespältigen Haltung begegnet wurde, sollte eine Neuausrichtung der Ausbildung doch dem Vorwurf der vor allem einer ausländischen Kundschaft geschuldeten erzählerischen Naturimitation entgegenwirken.
Denn zwischen Anerkennung reicher Dekorationen und der Forderung nach Reduktion des Ornaments mit Blick auf die Funktion, die ein Gegenstand erfüllte, offenbarte sich ein Widerspruch, der die Schnitzerei als Gestaltungsmittel im Verlauf des Jahrhunderts zunehmend in Frage stellte. Doch verband sich gerade mit dem Studium der originalen Schnitzereien der Frührenaissance für Kienholz und seine Zeitgenossen die Hoffnung, diesen Konflikt zu bewältigen. Denn mit dem ordnenden Prinzip dieser einfachen, flächig stilisierten vegetabilen Formen aus dem 15. Jahrhundert schien eine Methode gefunden worden zu sein, das Verständnis für eine zweckmässige und materialgerechte Ausführung von Objekten für den modernen Alltag nicht nur zugunsten einer vermögenden Gesellschaftsschicht zu fördern.
Es war das Bewusstsein um diese Tradition und um die Bedeutung des Studiums der Originale der toskanischen Renaissance für einen zeitgemässen Unterricht, die Hans Kienholz veranlassten, seine Italienreise mit den Worten zusammenzufassen: «Was ich nun auch in Italien gesehen, so muss ich sagen, dass für Leute unseres Fachs wohl keine andere Stadt zum Studium so viel bietet wie Florenz; ich kann immer nur mit dem grössten Vergnügen an den Aufenthalt dort zurückdenken.»