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Wie die linke Liebe zur EU verblasste – in 5 Akten

ARCHIVE --- VOR 25 JAHREN, AM 6. DEZEMBER 1992, WURDE NACH EINEM HEFTIGEN, HOCHEMOTIONAL GEFUEHRTEN ABSTIMMUNGSKAMPF DER BEITRITT DER SCHWEIZ ZUM EWR BEI HOHER STIMMBETEILIGUNG AEUSSERST KNAPP ABGELEH ...
Es war einmal: An einer Demo im Dezember 1992 forderten rund 6000 Demonstranten den Bundesrat dazu auf, nach dem EWR-Nein einen Vollbeitritt zur EU auszuhandeln.Bild: KEYSTONE
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Wie die linke Liebe zur EU verblasste – in 5 Akten

Der Pro-Europäer Cédric Wermuth wettert gegen die EU-Elite, in Deutschland formiert sich eine EU-skeptische Sammelbewegung um Sahra Wagenknecht. Wie es dazu kam.
29.08.2018, 14:4630.08.2018, 06:25
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«Die SP steht für die rasche Einleitung von Beitrittsverhandlungen mit der EU ein.» So steht es schwarz auf weiss im aktuellen Parteiprogramm der Schweizer Sozialdemokraten. In Realität ist die Begeisterung für die Europäische Union bei den Linken aber deutlich abgekühlt.

Selbst Cédric Wermuth, ein feuriger EU-Befürworter, liess sich in der «Aargauer Zeitung» vom Montag mit den Worten zitieren: «Wenn die EU die Wende Richtung sozialen Fortschritt und Demokratie nicht schafft, halte ich einen Zusammenbruch inzwischen nicht mehr für ausgeschlossen».

Die Geschichte einer enttäuschten Liebe – in 5 Akten.

1. Akt: Die Europa-Euphorie

Am Tag, an dem Martin Naef 19 Jahre alt wurde, stand die Welt Kopf. In der Nacht vor seinem Geburtstag war in Berlin die Mauer gefallen, Menschen aus West und Ost lagen sich im Freudentaumel in den Armen.

Naef, heute Zürcher SP-Nationalrat und Chef der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS), erinnert sich: «Die Aufbruchstimmung, die Europa damals erfasste, machte auch vor der Schweiz nicht Halt.»

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Der Mauerfall am 9. November 1989 leitete eine neue Epoche ein.Bild: AP

Der Traum eines vereinigten Europa ging um. Und als die europäischen Staaten im Februar 1992 mit dem Vertrag von Maastricht noch enger zusammenrückten, liebäugelten längst nicht nur Linke mit einem EU-Beitritt. Diese taten es allerdings besonders euphorisch: Die Sozialdemokraten würden das Beitrittsgesuch «lieber heute als erst morgen deponieren», notierte das Magazin «Cash» damals.

Schon im Mai des gleichen Jahres hinterlegte der Bundesrat ein Beitrittsgesuch in Brüssel. Die geplante Aufnahme in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sollte nur ein Zwischenschritt in Richtung Vollmitgliedschaft sein. Doch es kam anders.

2. Akt: Das EWR-Trauma

Als das Stimmvolk den EWR-Beitritt im Dezember 1992 mit 50,3 Prozent Nein ablehnte, sprach Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz von einem «schwarzen Sonntag». Zu den Verlierern dieses Tages gehörten seine Freisinnigen genauso wie die CVP und die SP. «Die EWR-Abstimmung hat mich politisch so stark geprägt wie kein Ereignis vorher oder nachher», sagt Martin Naef.

Die den EWR befuerwortenden Parteien aus den beiden Basler Halbkantonen veranstalten eine 'Euro-Party' auf dem Barfuesserplatz in Basel, aufgenommen am 14. November 1992. (KEYSTONE/Michael K ...
Die «Euro-Party» ist vorbei. Die befürwortenden Parteien bei einer Kundgebung in Basel 1992.Bild: KEYSTONE

Auch als die bürgerlichen Parteien nach und nach vom Ziel einer EU-Mitgliedschaft abrückten, hielten die Sozialdemokraten eisern daran fest. «Wir haderten lange damit, dass die Schweiz diesen mühsamen Weg der Bilateralen beschreiten musste – auch wenn er sich letztlich als ziemlich erfolgreich erwies», so Naef.

3. Akt: Von Krisen und Knechtschaft

Als die Euro- und die Schuldenkrise die EU ab 2010 mit voller Wucht trafen, bekam auch das Image von Brüssel tiefe Kratzer ab. Die Art, wie die Europäische Union die verschuldeten Länder Südeuropas ans Gängelband nahm und eine harte Sparpolitik durchsetzte, sorgte selbst in linken Kreisen für Stirnrunzeln. Von «EU-Kolonialismus» und «Knechtschaft» sprachen Kritiker.

«Mit ihrer reinen Wirtschaftspolitik hat die EU bei den Linken viel Geschirr zerschlagen», sagt Matthias Aebischer, der seit 2011 für die Berner SP im Nationalrat sitzt. «Es zeigte sich, was sich später während der Flüchtlingskrise bestätigen sollte: Die EU ist ein neoliberales Gebilde, das Geschäfte machen will, aber unfähig ist, auf soziale Probleme zu reagieren.»

Demonstrators holding placards march down Lisbon's main Liberdade avenue during a protest against austerity measures taken by the Portuguese government in exchange of a euro 78 billion ($101 bill ...
Nicht nur in Griechenland, auch in Portugal protestierten die Menschen gegen die Austeritätspolitik der EU – wie hier in Lissabon 2013.Bild: AP

Auf seiner persönlichen Website deklariert Aebischer seine Position in der Europafrage klipp und klar: Er sei zwar für eine offene EU-Diskussion, aber «gegen einen EU-Beitritt». Dazu stand Aebischer schon, als er 2011 seine Kandidatur für den Nationalrat bekanntgab. Damals sei er mit dieser Haltung «allein auf weiter Flur» gewesen, erinnert sich Aebischer. Sich gegen eine Mitgliedschaft in der EU auszusprechen, habe «viel Mut erfordert».

In den Jahren darauf ertönten allerdings auch aus dem proeuropäischen Flügel der Sozialdemokratie erste kritische Stimmen. So versuchten 2015 ausgerechnet die Jungsozialisten, den Besuch von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz an einer SP-Veranstaltung zu verhindern.

«Martin Schulz hat sich als EU-Parlamentspräsident in einer Weise über die Griechenland-Krise geäussert, die für einen Sozialdemokraten unzulässig ist», sagte der damalige Juso-Präsident Fabian Molina in einem Interview mit 20 Minuten. Und weiter: «Es ist unbestritten, dass die Europäische Union sich in einer tiefen Krise befindet.»

4. Akt: Einsame Euro-Turbos

Wie nachhaltig die Europa-Euphorie in der SP erschüttert wurde, verrät etwa ein Blick in die Wahlhilfe Smartvote. Im Fragebogen, den vor den Wahlen 2015 fast sämtliche National- und Ständeräte ausfüllten, antwortete eine Mehrheit der Sozialdemokraten nicht gemäss Parteiprogramm.

Bei der Frage, ob die Schweiz innerhalb der nächsten vier Jahre EU-Beitrittsverhandlungen aufnehmen soll, kreuzten nur gerade sechs SP-Parlamentarier «Ja» an. Sie heissen Cédric Wermuth, Mattea Meyer, Eric Nussbaumer, Roger Nordmann, Laurence Fehlmann und Priska Seiler-Graf.

Während manche Fraktionskollegen auf das unverbindlichere «eher Ja» auswichen, drückten rund zwei Dutzend Sozialdemokraten den «Nein»- oder «eher Nein»-Knopf.

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Das sind die grössten EU-Fans in der SP
Die letzten Mohikaner: Cédric Wermuth (AG) ist einer von gerade einmal sechs SP-Parlamentariern, die sich 2015 vorbehaltlos für eine rasche Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen ausgesprochen haben.
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Als klare Gegner eines raschen EU-Beitritts positionierten sich neben Aebischer auch die beiden Zürcher Nationalrätinnen Jacqueline Badran und Min Li Marti, die Westschweizer Mathias Reynard, Jean-François Steiert und Carlo Sommaruga sowie die Tessinerin Marina Carobbio Guscetti und der inzwischen verstorbene Berner Nationalrat Alexander Tschäppät.

Aebischer betont, er sei kein Isolationist. Im Gegenteil, eine gut funktionierende EU wäre für ihn in Theorie «das Beste überhaupt». «Doch dafür müssten die Staaten untereinander so solidarisch sein, wie es die Schweizer Kantone sind.» Solange sich Ungarn oder Polen einfach weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen, und auch noch damit durchkämen, funktioniere ein solches Mehrstaatengebilde nicht.

5. Akt: Jetzt stehen sie auf

Anfang August gingen die Gewerkschafter in der Schweiz auf die Barrikaden. Sie machten deutlich, dass sie im Rahmenabkommen mit der EU keine Zugeständnisse im Lohnschutz akzeptieren – und boykottierten die Gespräche mit Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (FDP).

Sie wissen dabei SP-Chef Christian Levrat auf ihrer Seite: Ein Rahmenabkommen wäre zwar wünschenswert, aber nicht um jeden Preis, sagte dieser in einem Interview mit dem Blick. «Wir opfern nicht die Löhne von Bauarbeitern für dieses Abkommen.»

Gleichzeitig erstarken international linke Bewegungen, die sich offen EU-kritisch geben. In den kommenden Tagen will Sahra Wagenknecht ihr lange angekündigtes Projekt «Aufstehen» zum Fliegen bringen. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagte sie: «Die heutige EU befördert Nationalismus und Europafeindlichkeit, weil die Menschen sich entmündigt fühlen. Die EU-Kommission agiert im demokratiefreien Raum.»

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Sahra Wagenknecht will Anfang September die linke Sammelbewegung «Aufstehen» aus der Taufe heben.Bild: EPA/EPA

Und weiter: «Franzosen oder Italiener möchten weder aus Brüssel noch aus Berlin regiert werden.» Auch der Personenfreizügigkeit steht Wagenknecht ausgesprochen skeptisch gegenüber. Es sei falsch, Menschen aus armen Ländern abzuwerben, «um hier Lohndumping zu betreiben», führt sie aus.

Als Vorbilder für ihre Sammelbewegung nannte Wagenknecht in einem NZZ-Interview Jean-Luc Mélenchon in Frankreich und Jeremy Corbyn in Grossbritannien. Die beiden manchen ebenfalls keinen Hehl aus ihrer EU-Skepsis. Der Sozialist Mélenchon drohte im Präsidentschaftswahlkampf vergangenes Jahr gar mit dem Austritt aus der EU.

«Die Diskussionen, die eine Sahra Wagenknecht oder ein Jean-Luc Mélenchon lostreten, haben sicher eine Ausstrahlung auf die Diskussion bei der Schweizer Linken», sagt Matthias Aebischer. Er selber will nicht mit den beiden in eine Ecke gestellt werden. «Wenn schon, dann habe ich die Ecke zuerst besetzt – und jetzt kommen die anderen nach», sagt er mit einem Augenzwinkern.

Epilog

Er verstehe, dass bei manchen Parteikollegen Ernüchterung eingekehrt sei, sagt Martin Naef. Er teile die Ansicht, dass das Image der EU im Zuge der Flüchtlings- und der Finanzkrise tiefe Kratzer abgekriegt habe. «Aus meiner Sicht wäre es aber exakt der falsche Schluss, sich aus enttäuschter Liebe abzuwenden und nichts mehr mit der EU zu tun haben zu wollen.»

Wenn der Nationalismus in Europa wiedererstarke und die Orbans und Salvinis das Sagen hätten, brauche es das Engagement von links umso mehr. «Wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen, sondern müssen uns stärker denn je am Aufbau eines sozialen Europas beteiligen.» Schliesslich wende er sich als linker Stadtzürcher auch nicht von der Schweiz ab, nur weil das Land bürgerlich wählt, wagt Naef einen Vergleich.

Portrait von Martin Naef, Jurist aus Zuerich, Nationalrat der SP des Kantons Zuerich, aufgenommen am 07. Dezember 2011 in Bern. (KEYSTONE/Gaetan Bally)
Martin Naef ist SP-Nationalrat und Präsident der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS).Bild: KEYSTONE

Dass eine Mehrheit seiner Partei bereit wäre, das Rahmenabkommen mit der EU wegen Zugeständnissen bei den flankierenden Massnahmen zu kippen, glaubt Naef nicht. «Schliesslich ist eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union auch als Ziel in den Statuten der Gewerkschaften verankert.» Es sei nun am Bundesrat, die roten Linien zu verteidigen. Dies sieht auch Matthias Aebischer so: «Ich glaube nicht, dass irgendjemand in unserer Partei das Rahmenabkommen leichtfertig aufgeben würde.»

Auch Cédric Wermuth will seine Kritik an der EU nicht als Absage an die europäische Integration verstanden wissen, wie er auf Twitter betont. Er kritisiere die Politik in der EU, gerade weil er überzeugter Europäer sei. «Die Kritik am neoliberalen Europa ist nicht anti-, sondern pro-europäisch.»

Wir erklären dir das institutionelle Rahmenabkommen

Video: Lea Senn, Angelina Graf
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60 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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wydy
29.08.2018 15:16registriert Februar 2016
Die EU ist als Grundsatzidee nicht schlecht, nur wird zuviel auf Biegen und Brechen erzwungen. Die Differenz in der Kultur ist schlichtweg noch zu gross und eine langsamere Annäherung würde mehr Sinn machen. Auch hat man als Schweizer das Gefühl, die EU sei strikter gegenüber der Schweiz, als gegenüber den eigenen Mitgliederstaaten. Wir sind gefühlt ein besseres EU Mitglied als einige Mitgliedsstaaten und trotzdem wird man andauernd erpresst. "Sagt ja oder wir kündigen die bilateralen", mehr kommt von Brüssel nicht.
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ostpol76
29.08.2018 15:26registriert November 2015
Zurückblickend kann man nur eines sagen:
Wir haben alles richtig gemacht und zum Glück nicht auf die SP gehört.
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jimknopf
29.08.2018 16:42registriert Dezember 2016
Ich war früher auch immer für einen EU-Beitritt. Hat sich zum Glück nicht so entwickelt. Und als politisch "Linker" muss man da auch Herrn Blocher danken, der viel dagegen unternommen hat.
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