«Die SP steht für die rasche Einleitung von Beitrittsverhandlungen mit der EU ein.» So steht es schwarz auf weiss im aktuellen Parteiprogramm der Schweizer Sozialdemokraten. In Realität ist die Begeisterung für die Europäische Union bei den Linken aber deutlich abgekühlt.
Selbst Cédric Wermuth, ein feuriger EU-Befürworter, liess sich in der «Aargauer Zeitung» vom Montag mit den Worten zitieren: «Wenn die EU die Wende Richtung sozialen Fortschritt und Demokratie nicht schafft, halte ich einen Zusammenbruch inzwischen nicht mehr für ausgeschlossen».
Die Geschichte einer enttäuschten Liebe – in 5 Akten.
Am Tag, an dem Martin Naef 19 Jahre alt wurde, stand die Welt Kopf. In der Nacht vor seinem Geburtstag war in Berlin die Mauer gefallen, Menschen aus West und Ost lagen sich im Freudentaumel in den Armen.
Naef, heute Zürcher SP-Nationalrat und Chef der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS), erinnert sich: «Die Aufbruchstimmung, die Europa damals erfasste, machte auch vor der Schweiz nicht Halt.»
Der Traum eines vereinigten Europa ging um. Und als die europäischen Staaten im Februar 1992 mit dem Vertrag von Maastricht noch enger zusammenrückten, liebäugelten längst nicht nur Linke mit einem EU-Beitritt. Diese taten es allerdings besonders euphorisch: Die Sozialdemokraten würden das Beitrittsgesuch «lieber heute als erst morgen deponieren», notierte das Magazin «Cash» damals.
Schon im Mai des gleichen Jahres hinterlegte der Bundesrat ein Beitrittsgesuch in Brüssel. Die geplante Aufnahme in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sollte nur ein Zwischenschritt in Richtung Vollmitgliedschaft sein. Doch es kam anders.
Als das Stimmvolk den EWR-Beitritt im Dezember 1992 mit 50,3 Prozent Nein ablehnte, sprach Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz von einem «schwarzen Sonntag». Zu den Verlierern dieses Tages gehörten seine Freisinnigen genauso wie die CVP und die SP. «Die EWR-Abstimmung hat mich politisch so stark geprägt wie kein Ereignis vorher oder nachher», sagt Martin Naef.
Auch als die bürgerlichen Parteien nach und nach vom Ziel einer EU-Mitgliedschaft abrückten, hielten die Sozialdemokraten eisern daran fest. «Wir haderten lange damit, dass die Schweiz diesen mühsamen Weg der Bilateralen beschreiten musste – auch wenn er sich letztlich als ziemlich erfolgreich erwies», so Naef.
Als die Euro- und die Schuldenkrise die EU ab 2010 mit voller Wucht trafen, bekam auch das Image von Brüssel tiefe Kratzer ab. Die Art, wie die Europäische Union die verschuldeten Länder Südeuropas ans Gängelband nahm und eine harte Sparpolitik durchsetzte, sorgte selbst in linken Kreisen für Stirnrunzeln. Von «EU-Kolonialismus» und «Knechtschaft» sprachen Kritiker.
«Mit ihrer reinen Wirtschaftspolitik hat die EU bei den Linken viel Geschirr zerschlagen», sagt Matthias Aebischer, der seit 2011 für die Berner SP im Nationalrat sitzt. «Es zeigte sich, was sich später während der Flüchtlingskrise bestätigen sollte: Die EU ist ein neoliberales Gebilde, das Geschäfte machen will, aber unfähig ist, auf soziale Probleme zu reagieren.»
Auf seiner persönlichen Website deklariert Aebischer seine Position in der Europafrage klipp und klar: Er sei zwar für eine offene EU-Diskussion, aber «gegen einen EU-Beitritt». Dazu stand Aebischer schon, als er 2011 seine Kandidatur für den Nationalrat bekanntgab. Damals sei er mit dieser Haltung «allein auf weiter Flur» gewesen, erinnert sich Aebischer. Sich gegen eine Mitgliedschaft in der EU auszusprechen, habe «viel Mut erfordert».
In den Jahren darauf ertönten allerdings auch aus dem proeuropäischen Flügel der Sozialdemokratie erste kritische Stimmen. So versuchten 2015 ausgerechnet die Jungsozialisten, den Besuch von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz an einer SP-Veranstaltung zu verhindern.
«Martin Schulz hat sich als EU-Parlamentspräsident in einer Weise über die Griechenland-Krise geäussert, die für einen Sozialdemokraten unzulässig ist», sagte der damalige Juso-Präsident Fabian Molina in einem Interview mit 20 Minuten. Und weiter: «Es ist unbestritten, dass die Europäische Union sich in einer tiefen Krise befindet.»
Wie nachhaltig die Europa-Euphorie in der SP erschüttert wurde, verrät etwa ein Blick in die Wahlhilfe Smartvote. Im Fragebogen, den vor den Wahlen 2015 fast sämtliche National- und Ständeräte ausfüllten, antwortete eine Mehrheit der Sozialdemokraten nicht gemäss Parteiprogramm.
Bei der Frage, ob die Schweiz innerhalb der nächsten vier Jahre EU-Beitrittsverhandlungen aufnehmen soll, kreuzten nur gerade sechs SP-Parlamentarier «Ja» an. Sie heissen Cédric Wermuth, Mattea Meyer, Eric Nussbaumer, Roger Nordmann, Laurence Fehlmann und Priska Seiler-Graf.
Während manche Fraktionskollegen auf das unverbindlichere «eher Ja» auswichen, drückten rund zwei Dutzend Sozialdemokraten den «Nein»- oder «eher Nein»-Knopf.
Als klare Gegner eines raschen EU-Beitritts positionierten sich neben Aebischer auch die beiden Zürcher Nationalrätinnen Jacqueline Badran und Min Li Marti, die Westschweizer Mathias Reynard, Jean-François Steiert und Carlo Sommaruga sowie die Tessinerin Marina Carobbio Guscetti und der inzwischen verstorbene Berner Nationalrat Alexander Tschäppät.
Aebischer betont, er sei kein Isolationist. Im Gegenteil, eine gut funktionierende EU wäre für ihn in Theorie «das Beste überhaupt». «Doch dafür müssten die Staaten untereinander so solidarisch sein, wie es die Schweizer Kantone sind.» Solange sich Ungarn oder Polen einfach weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen, und auch noch damit durchkämen, funktioniere ein solches Mehrstaatengebilde nicht.
Anfang August gingen die Gewerkschafter in der Schweiz auf die Barrikaden. Sie machten deutlich, dass sie im Rahmenabkommen mit der EU keine Zugeständnisse im Lohnschutz akzeptieren – und boykottierten die Gespräche mit Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (FDP).
Sie wissen dabei SP-Chef Christian Levrat auf ihrer Seite: Ein Rahmenabkommen wäre zwar wünschenswert, aber nicht um jeden Preis, sagte dieser in einem Interview mit dem Blick. «Wir opfern nicht die Löhne von Bauarbeitern für dieses Abkommen.»
Gleichzeitig erstarken international linke Bewegungen, die sich offen EU-kritisch geben. In den kommenden Tagen will Sahra Wagenknecht ihr lange angekündigtes Projekt «Aufstehen» zum Fliegen bringen. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagte sie: «Die heutige EU befördert Nationalismus und Europafeindlichkeit, weil die Menschen sich entmündigt fühlen. Die EU-Kommission agiert im demokratiefreien Raum.»
Und weiter: «Franzosen oder Italiener möchten weder aus Brüssel noch aus Berlin regiert werden.» Auch der Personenfreizügigkeit steht Wagenknecht ausgesprochen skeptisch gegenüber. Es sei falsch, Menschen aus armen Ländern abzuwerben, «um hier Lohndumping zu betreiben», führt sie aus.
Als Vorbilder für ihre Sammelbewegung nannte Wagenknecht in einem NZZ-Interview Jean-Luc Mélenchon in Frankreich und Jeremy Corbyn in Grossbritannien. Die beiden manchen ebenfalls keinen Hehl aus ihrer EU-Skepsis. Der Sozialist Mélenchon drohte im Präsidentschaftswahlkampf vergangenes Jahr gar mit dem Austritt aus der EU.
«Die Diskussionen, die eine Sahra Wagenknecht oder ein Jean-Luc Mélenchon lostreten, haben sicher eine Ausstrahlung auf die Diskussion bei der Schweizer Linken», sagt Matthias Aebischer. Er selber will nicht mit den beiden in eine Ecke gestellt werden. «Wenn schon, dann habe ich die Ecke zuerst besetzt – und jetzt kommen die anderen nach», sagt er mit einem Augenzwinkern.
Er verstehe, dass bei manchen Parteikollegen Ernüchterung eingekehrt sei, sagt Martin Naef. Er teile die Ansicht, dass das Image der EU im Zuge der Flüchtlings- und der Finanzkrise tiefe Kratzer abgekriegt habe. «Aus meiner Sicht wäre es aber exakt der falsche Schluss, sich aus enttäuschter Liebe abzuwenden und nichts mehr mit der EU zu tun haben zu wollen.»
Wenn der Nationalismus in Europa wiedererstarke und die Orbans und Salvinis das Sagen hätten, brauche es das Engagement von links umso mehr. «Wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen, sondern müssen uns stärker denn je am Aufbau eines sozialen Europas beteiligen.» Schliesslich wende er sich als linker Stadtzürcher auch nicht von der Schweiz ab, nur weil das Land bürgerlich wählt, wagt Naef einen Vergleich.
Dass eine Mehrheit seiner Partei bereit wäre, das Rahmenabkommen mit der EU wegen Zugeständnissen bei den flankierenden Massnahmen zu kippen, glaubt Naef nicht. «Schliesslich ist eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union auch als Ziel in den Statuten der Gewerkschaften verankert.» Es sei nun am Bundesrat, die roten Linien zu verteidigen. Dies sieht auch Matthias Aebischer so: «Ich glaube nicht, dass irgendjemand in unserer Partei das Rahmenabkommen leichtfertig aufgeben würde.»
Auch Cédric Wermuth will seine Kritik an der EU nicht als Absage an die europäische Integration verstanden wissen, wie er auf Twitter betont. Er kritisiere die Politik in der EU, gerade weil er überzeugter Europäer sei. «Die Kritik am neoliberalen Europa ist nicht anti-, sondern pro-europäisch.»
Naja, eigentlich ist es genau andersrum. Das ist a) nicht neu (aber ich weiss, taugt nicht als Schlagzeile) und b) kritisier ich die Politik in der EU gerade WEIL ich überzeugter Europäer bin. Die Kritik an neoliberalen Europa ist nicht anti-, sondern pro-europäisch. https://t.co/yEIPd6rLn9
— Cédric Wermuth (@cedricwermuth) 27. August 2018