Man kann ihn kaum sehen, und der Ton fällt immer wieder genau dann aus, wenn alle Journalisten besonders gespannt sind, was er jetzt sagen wird. Der Mann mit blondem Hipsterbart steht im Mittelpunkt einer virtuellen Pressekonferenz, deren Gastgeber dauerhaft unsichtbar bleiben: «Anonymous» hat eingeladen, mit Kai zu sprechen. Kai, der auf der Terrasse in der Türkei anfangs noch in den letzten Sonnenstrahlen sass und jetzt im Dunkeln, ist der Mann, der Attila Hildmanns engster Vertrauter war und jetzt sein Verhängnis ist. Hildmann tobt.
Denkwürdige Pressekonferenz.
— Lars Wienand (@LarsWienand) September 16, 2021
Gastgeber: #FreeAnonNewsDE, unsichtbar
Moderator: @Anwalt_Jun, eine Stunde vorher dafür gewonnen.
Protagonist: Kai E.,der #Hildmann-Whistleblower, saß zeitweise völlig im Dunkeln und Ton riss ab, wenn es spannend wurde. Es wurde oft spannend.
Er hat 100'000 E-Mails von Hildmann mitgenommen, dessen Onlineshop lahmgelegt und alle Kundendaten an sich gerissen, er hat Hildmanns Handy gekapert und sich bei «Anonymous» gemeldet, um aufzuräumen. «Ich hoffe, dass wir es bald so hinter uns bringen, dass er einsitzt.»
Kai spricht auch von Behördenversagen und einer undichten Stelle bei der Berliner Polizei, er spricht von hohen Schulden Hildmanns – Beweise bleibt er schuldig. Die Datenmassen sollen erst richtig ausgewertet werden, erklärt er. Von «Anonymous» werde noch viel kommen. «Wir haben noch einiges vor, wir lassen diesen Mann nicht ungestraft davonkommen.»
Er erzählt viel über Hildmann, der in dieser Runde nicht widersprechen kann und der Anfragen von watson-Medienpartner t-online in der Pandemie nie beantwortet hat. Es ist die Sicht von jemandem, der über Monate hinweg als engster Vertrauter alles mitbekommen hat – aber nicht alles muss stimmen:
Über Hildmanns Kampf: Hildmann stellt sich als Führer eines Widerstands gegen eine heimliche jüdische Weltherrschaft dar.
Kai sagt, er habe anfangs gedacht, Hildmann werde durch Medienhetze radikalisiert. «Das stimmt nicht, er hatte diese Weltanschauung von Anfang an. Aber bei seinem Kampf geht es um etwas anderes. Er hat damit angefangen, weil er nichts mehr zu verlieren hat und er so narzisstisch ist und will, dass für irgendwas zu ihm aufgeschaut wird.» Denn: Mit hohen Schulden habe Hildmann schon vor Corona vor dem Ruin gestanden.
Über Hildmanns erste Flucht: Kai sass neben Hildmann, als sie Mitte Dezember zunächst nach Polen flohen und dann von dort nach Süden über die Slowakei, Ungarn und Bulgarien nach Istanbul. Gegen Hildmann liefen bereits diverse Anzeigen, seinen Führerschein hätte er auch abgeben müssen. Mit der plötzlichen Flucht zerschlug sich für Kai zunächst ein konkreter Ausstiegsplan. «Zwei Tage später hatte ich aussteigen wollen, aber meine Vorbereitungen waren noch nicht abgeschlossen.» In der Silvesternacht seien sie von dort nach Kayaköy gefahren, wo sich Hildmann bis Anfang September in wechselnden Villen aufgehalten habe. Inzwischen sei Hildmann wohl nicht mehr dort.
Über den geleakten Haftbefehl: Der Haftbefehl sorgte für Wirbel, weil Hildmann davon erfahren und darüber gespottet hatte. «Man muss aber wissen, dass er da ja schon in der Türkei war. Für ihn war es nur eine Bestätigung, dass es richtig war, sich abzusetzen.» Kai liefert keine Nachweise darüber, dass Hildmann die Info bekam – noch nicht: «Ich würde Personen, die in Berliner Justizkreisen mit Hildmann zusammenarbeiten, sofort entlarven, aber ich muss es verifizierbar gestalten.»
Über Hildmanns Staatsangehörigkeit: «Er hat keine Staatsbürgerschaft der Türkei, aber er arbeitet daran», so Kai. Die Frage ist brisant, weil die Türkei eigene Staatsbürger nicht ausliefert. Die Generalstaatsanwaltschaft in Berlin hat auf explizite Nachfragen stets erklärt, Hildmann habe eine türkische Staatsangehörigkeit – ohne Angaben zu machen, woher sie das weiss. Sie bekräftigte das auch am Donnerstag. Man müsse «davon ausgehen, dass der Beschuldigte von den türkischen Behörden nicht ausgeliefert würde». Sie erklärte aber auch.
Eine von Kai veröffentlichte Sprachnachricht zeigte dagegen, dass Hildmann sich um die Staatsbürgerschaft bemüht. Anfang September habe er benötigte Unterlagen aus Deutschland erhalten, sagt Hildmann dort. Jetzt könne das Verfahren sieben Monate dauern. Hildmann wurde als Kind türkischer Eltern geboren, dann aber adoptiert. Hildmann veröffentlichte auch am Donnerstag ein Video, in dem er sagte, er habe in der Türkei gerade seinen türkischen Pass beantragt. Wie rechtlich kompliziert die Frage der Staatsbürgerschaft sein kann, wird in diesem Text erläutert.
Über Hildmanns neue Flucht: In einer Sprachnachricht, die vom 9. September sein soll, erklärt Hildmann selbst, er sei beinahe paranoid und fürchte ständig, die türkische Polizei könne vor der Tür stehen. Er werde jetzt Kayaköy verlassen und durchs Land fahren. Das deckt sich mit seinen Informationen, sagt Kai. «Ich bin dort sehr gut vernetzt, er hat Kayaköy verlassen.» Hildmann spricht sogar von Belarus.
Über die Polizei in der Türkei: Dorthin habe er über einen Bekannten Kontakt, sagt Kai. «Sie mögen ihn nicht und sie haben jetzt auch Nachricht bekommen, dass er ein Cyberterrorist ist. Sie bekommen noch mehr Informationen, und ich würde mir wünschen, dass die Behörden in Deutschland mitarbeiten.»
Über die Gefahr durch Hildmann: Hildmann hat Kai gedroht, ihn auch noch in Jahren zu verfolgen, und ihm ein Ultimatum gesetzt, Seiten und Daten zurückzugeben. Kai hat es ignoriert.
Kai sagt aber auch, dass die türkische Polizei bei Hildmann auf eine Waffe gestossen sei, dass er sich einer Bedrohung durch Hildmann bewusst sei, aber sich gut abgesichert habe. Und:
Über Hildmanns Anhänger: Zeitweise hatte Hildmann auf Telegram mehr als 120'000 Abonnenten. «Aber die echte Anhängerschaft ist sehr überschaubar. Die meisten Follower habe ich gekauft, für ein paar Euro.» «Üble Neonazis, III. Weg und so» hätten auch früh in den inneren Kreis gedrängt, er habe sie aber aussortiert. Unter den Anhängern seien solche Leute aber.
Über Hildmanns Unterstützer: Einen IT-Fachmann habe Hildmann nicht im Team, «und er ist ein Vollidiot, was das angeht, und ich hoffe und glaube nicht, dass er jemanden findet, der sich in die Gefahr bringt. Jeder fragt sich ja auch, was Anonymous noch vorhat und noch vorbereitet hat.» Auch unter Betreuern seiner Telegram-Gruppen bröckele es. Kai berichtet von Streit: «Ich habe eine Sprachnachricht geleakt, in der er bettelte, endlich seine Spendenkanäle einzurichten. Eine Frage dazu hat er sofort gelöscht, jetzt geht es darum, dass er Stellung beziehen soll.» Mit Organisationen ausserhalb gebe es keine Zusammenarbeit mehr: «Da hat er es sich mit allen verscherzt.»
Über Behördenversagen: Kai sagt, nach seinem Gang an die Öffentlichkeit habe die Polizei in dieser Woche seinem früheren Büro einen Besuch abgestattet. Davor habe er nie von Behörden gehört – trotz Kontaktaufnahme. Demnach habe er, ohne Rückmeldung von der Polizei zu bekommen, ein Video gemeldet, in dem jemand mit einer Schusswaffe posiert und erzählt, er würde «jetzt die ganzen Antifas totschiessen». Dieses Video war auf die «zensurfreie» Videoplattform WTube hochgeladen worden, die Kai für Hildmann erstellt hatte. Kai habe es über das Hinweisportal der Polizei gemeldet und nicht freigeschaltet. «Ich habe informiert, dass so was bei uns hochgeladen wird. Es kam nie was zurück.» Anonymous beklagt, umfangreiche Daten wie IP-Adressen von Servern zum Abschalten von Hildmann-Hetze an Berliner Behörden übergeben zu haben, wo sie bis heute ignoriert worden seien.
Über sich: Kai ist Programmierer, 22 Jahre alt und stammt aus Bayern. Er spricht bei Corona von einer «Plandemie»: «Ich hätte mir gewünscht, ich würde zu einem anderen Ergebnis kommen, das hätte es mir leichter gemacht». Er habe aber nie mit Nazis zu tun haben wollen – und er selbst will nicht andere von seinen Thesen überzeugen, sagt er: «Ich bin niemand, der die Welt verrückt machen will». Er versuche aber, seine Resourcen für Gerichtigkeit einzusetzen, «wenn es denn so etwas gibt».
Nein, das ist er nicht.
Er ist ein kleines veganes Wurstersatzprodukt.