Jetzt soll sich sogar die Bundesregierung wegen Attila Hildmann erklären: Ist er in der Türkei vor deutscher Strafverfolgung geschützt? Hildmann sagt von sich, er sei «Osmane» und kein Deutscher, auch wenn er «immer auf der Seite der Germanen stehen» werde. Seit er in die Türkei geflüchtet ist, verbreitet er noch unverblümter NS-Verherrlichung, Judenhass und Umsturzaufrufe. Dabei tut er zumindest so, als ob er sich völlig sicher fühlt vor deutschen Behörden.
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner hat nach dem t-online-Bericht über seinen genauen Aufenthaltsort bei der Bundesregierung nachgefragt. Sie will wissen, was vielleicht auch mit Unterstützung des Justizministeriums getan wurde, um Hildmann hinter Gitter zu bringen und seine Auslieferung nach Deutschland zu erreichen. Die Reaktion steht noch aus.
Wenn aber die Informationen der Generalstaatsanwaltschaft Berlin zutreffen, ist die Antwort absehbar: Es wurden keine Massnahmen getroffen. Hildmann habe die türkische Staatsangehörigkeit, so die Generalstaatsanwaltschaft. Eigene Staatsangehörige liefert die Türkei nicht aus, ebenso wie umgekehrt Deutschland nicht. Hildmann könnte also allenfalls von der Türkei juristische Verfolgung drohen, so lange er sie nicht verlässt.
Wenn das so sein sollte, beginne das Problem früher, so die Abgeordnete Renner zu t-online: «Polizei und Staatsanwaltschaft müssen sich fragen lassen, warum Hildmann nicht schon vor seiner Ausreise wegen dieser Delikte sowie öffentlicher Aufforderung zu Straftaten beispielsweise mit Strafbefehlen zur Verantwortung gezogen wurde.» Die Linke verweist auch auf Betroffene, die massiv von Hildmanns Anhängern angegangen werden. «Die müssen sich einmal mehr fragen, ob die Behörden kein Interesse daran haben, sie zu schützen.»
Denn: Hildmann konnte sich lange darauf einstellen, dass sich in Deutschland die Schlinge um ihn enger zieht. Monatelang waren seine strafrechtlich relevanten Aussagen Themen in den Medien, ehe schliesslich im November 2020 acht Beamte des Brandenburger Staatsschutzes mit lokaler Verstärkung sein Haus in Wandlitz durchsuchten.
Die Ermittler nahmen nicht nur Beweismittel mit, sondern wollten mit den Sicherstellungen von Computern und Handys auch die fortgesetzte Begehung von Straftaten im Internet erschweren, wie es von der Polizei Brandenburg hiess. Hildmann habe auch eine entsprechende «Gefährderansprache» erhalten – eindeutige Aufforderungen, so nicht weiterzumachen.
Während die Auswertung der Datenträger offenbar eher schleppend lief, machte Hildmann unbeeindruckt weiter – und konnte sich dann spätestens Anfang Januar in die Türkei absetzen. Sein letztes bekanntes Auftreten in Deutschland war am 10. Dezember: Spiegel-TV drehte mit ihm. Danach war er für das Team auch nicht mehr erreichbar, keine Reaktion im geheimen Telegram-Chat und nur noch per Mailbox.
Auf welchem Weg er das Land verlassen hat, ist unklar. Aus seinem Umfeld gibt es Informationen, er sei die Strecke mit einem Auto gefahren. Spätestens am 10. Januar war er in der Türkei. Die Linken-Abgeordnete Renner sagt: «Es ist unerklärlich, dass die Behörden die teils abstrusen, aber eben auch strafrechtlich relevanten Tiraden des Hildmann hingenommen haben, obwohl von einer Vielzahl auch direkt Betroffener und Opfer seiner Beleidigungen und Drohungen bereits Strafanzeigen gestellt waren.»
Hildmann war offenbar schon über einen Monat in der Türkei, als am 19. Februar in Berlin ein Haftbefehl erging. Einen weiteren Monat später, am 25. März, informierte die Generalstaatsanwaltschaft, dass Hildmann in der Türkei sei – für sie unerreichbar, mit einer zeitnahen Vollstreckung des Haftbefehls sei nicht zu rechnen – weil Hildmann auch die türkische Staatsangehörigkeit habe.
Seit wann das den Ermittlern bekannt ist, ist unklar. Die Information bedeutet ja auch, dass bei Hildmann, dem fast alle Geschäftspartner gekündigt haben und der nichts mehr zu verlieren hat, erhöhte Fluchtgefahr bestand. Die Generalstaatsanwaltschaft hat eine Anfrage dazu bisher nicht beantwortet.
Im Netz gibt es aber Zweifel daran, dass Hildmann überhaupt die türkische Staatsangehörigkeit hat – obwohl die Generalstaatsanwaltschaft das mehrfach bekräftigt hat: Mit-Auslöser für Skepsis war ein inzwischen nicht mehr abrufbarer Blogbeitrag. Hildmann wollte demnach Mitte März aus Deutschland seine Geburtsurkunde zugeschickt bekommen. Zu welchem Zweck, wenn diese Information stimmt? Hildmann selbst beantwortet Fragen nicht.
Zweifel werden auch befeuert durch ein Missverständnis beim Adoptionsrecht: Hildmann kam als Kind türkischer Eltern zur Welt, wurde zunächst «Hüseyin» genannt, dann aber von deutschen Eltern adoptiert. Was das zunächst bedeutet, erklärt Rechtsanwalt Oberhäuser: «Nach deutschem Recht werden bei der Adoption die Wurzeln gekappt, ein Kind bekommt dann, abgeleitet von den ‹neuen› Eltern, die deutsche Staatsangehörigkeit.»
Daraus leiteten Nutzer in sozialen Netzwerken ab, Hildmann habe so seine türkische Staatsangehörigkeit verloren. Allerdings, so Anwalt Oberhäuser: Das deutsche Recht schlägt nicht auf das Recht anderer Staaten durch. Heisst: Wenn die Gesetzeslage 1981 in der Türkei nicht anders war, hat Hildmann aus türkischer Sicht die dortige Staatsangehörigkeit nie verloren.
Hildmann hätte dann seither die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft und hätte sich auch nie zwischen beiden entscheiden müssen. Wie die mehrfach geänderte türkische Rechtslage zur Zeit der Adoption war, konnten mehrere Anwälte t-online zunächst nicht sagen.
Die Türkische Botschaft in Berlin hat eine Anfrage dazu nicht beantwortet. Sie hätte auch zur Frage Stellung nehmen sollen, ob Hildmann mit seinen Äusserungen strafrechtliche Folgen in der Türkei zu befürchten hat.
Er selbst hatte zunächst noch erklärt, nur im Urlaub in der Türkei zu sein, er wolle zu seinem «Lebensmittelpunkt Berlin» zurück, wenn es warm sei. Das liest sich bei ihm inzwischen auch anders. Bis Deutschland «wieder frei» sei von den «BRD-Terroristen», bleibe er in seiner «Blutsheimat» Türkei, schrieb er am 25. März.
Wenn er in der Vergangenheit nicht grossspurig übertrieben hat, kann er in der Türkei von Rücklagen leben. Zumindest hatte er in einem Interview mit der Zeitschrift «Capital» 2016 erklärt, er sei «an dem Punkt, wo ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt habe». Er hatte ab 2012 hohe Einnahmen durch sein Vegan-Kochbuch und dann auch durch Werbeverträge und den Verkauf von veganen Produkten erzielt.
Seiner Zeit in Deutschland hat er aber nicht nur gute Geschäfte zu verdanken: Er danke «Deutschland für die Klarheit meiner Denke». Aber er sei «Osmane, der für die Deutschen kämpft» und kein Deutscher und werde sich auch nie zu einem Deutschen machen. Osmane – das ist ein Begriff, mit dem Hildmann an Gross-türkische Träume vom Osmanischen Reich anknüpft, denen auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan anhängt. In Deutschland gab es den nationalistischen rockerähnlichen Erdoğan-freundlichen Club «Osmanen Germania», der 2018 verboten wurde.
Hildmann ist aber auch als Osmane für deutschen Reichsbürger-Sprech offen: «Ich werde bald meinen BRD Personalausweis (Angestelltenausweis) zurückgeben», schrieb er.
Immerhin: Bei dem Vorhaben könnte er die breite Unterstützung bekommen, die er sonst ständig vermisst.
Bei dem Profil wird sich seine Anhängerschar in Grenzen halten.