Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und die französische Direktorin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, gehören zu den mächtigsten Frauen der Welt. Dort enden die Gemeinsamkeiten aber nicht. «Angela Merkel und ich haben entdeckt, dass wir beide dieselbe Angewohnheit haben», sagt Lagarde. «Wenn wir an einem bestimmten Thema arbeiten, bearbeiten wir das Dossier von innen, von aussen, von der Seite, rückwärts, historisch, genetisch und geografisch. Wir wollen alles im Griff haben, alles verstehen und uns von niemandem in die Irre führen lassen.» Sie nähmen einfach an, nicht über die fachliche Kompetenz zu verfügen, um das Ganze zu erfassen. Ein Geständnis, das aus dem Mund einer der einflussreichsten Personen der Welt zu erstaunen vermag, würde man doch erwarten, dass Führungskräfte dieses «Kalibers» über ein gesundes Selbstvertrauen verfügen.
Die Zitate stammen aus dem kürzlich erschienenen Buch «The Confidence Code» von Katty Kay und Claire Shipman. Die beiden Polit- und Fernsehjournalistinnen stellen die These auf, dass Frauen weniger Selbstvertrauen haben als Männer und dass dies sie beim Aufstieg in die Chefetagen hindert. In Gesprächen mit Führungsfrauen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Militär erfahren die Engländerin Kay und die Amerikanerin Shipman, dass Lagardes und Merkels Drang zum «Über-Vorbereiten» System hat: Er ist als Ausdruck von Unsicherheit typisch Frau. Shipman und Kay kommen zur Erkenntnis: «Die Machtzentren dieser Nation sind Zonen weiblicher Selbstzweifel.»
In einem Artikel in der Zeitschrift «The Atlantic» brachten die Journalistinnen ihre These einem breiten Publikum näher und lösten damit eine Kontroverse aus. So wurde den Autorinnen unterstellt, sie reduzierten das Thema Geschlechter und Chancengleichheit auf den Befund «Selbstzweifel». Doch die Kritik ist unbegründet: Kay und Shipman schreiben in ihrem Buch selbst einschränkend, die Kluft im Selbstvertrauen zwischen Frauen und Männern sei als «zusätzlicher Blickwinkel auf die Frage, warum Frauen sich nicht stärker (in ihre Karriere) hineinknien» zu verstehen.
Um ihre These der «Selbstvertrauens-Kluft» zu stützen, beziehen sich die Autorinnen auf zahlreiche wissenschaftliche Studien zum Thema. Etwa diese: Frauen bewarben sich nur für eine Beförderung, wenn sie glaubten, die Anforderungen zu 100 Prozent zu erfüllen. Männer bewarben sich, wenn sie glaubten, über 60 Prozent der Qualifikationen zu verfügen.
Oder diese: Psychologe und Wissenschafter Zachary Estes liess Probanden am Bildschirm räumliche Puzzles lösen. Die Frauen schnitten klar schlechter ab als die Männer. Doch Estes erkannte, dass die weiblichen Teilnehmerinnen viele der Aufgaben gar nicht zu lösen versucht hatten. Er gab den Probanden einen weiteren Test – mit der Vorgabe, dass die Studentinnen und Studenten zumindest versuchen mussten, jede Aufgabe zu lösen. Das Resultat: Frauen und Männer schnitten ungefähr gleich gut ab. Für Kay und Shipman zeigt der Estes-Test, dass mangelndes Selbstvertrauen zu Untätigkeit führt. Eine banale Einsicht, die jedoch angesichts der marginalen Frauenvertretung in Schlüsselrollen im Management doch wichtig ist.
Von Zaudern und Unsicherheiten wissen auch jene zu berichten, die sich in der Schweiz darum bemühen, Führungspositionen vermehrt mit Frauen zu besetzen. Zwar schränken sogenannte Executive-Search-Spezialisten ein, alle Aussagen zu frauen- und männertypischem Verhalten seien generalisierend und lediglich als Tendenzen zu verstehen. Trotzdem: «Frauen brauchen häufig Ermunterung», sagt Armin Meier von Boyden Schweiz. Als Headhunter überlege er gemeinsam mit der potenziellen Kandidatin, warum eine Aufgabe ins Leben passt, was die neue Stelle bedeuten würde und welche Lücken die Person noch hat. «Eine Frau überlegt sich länger, ob sie in einen Bewerbungsprozess einsteigen will. Ein angefragter Mann ist in der Regel schnell im Entscheiden», sagt Meier.
Ähnliche Beobachtungen macht Doris Aebi von Aebi+Kuehni. Sie ist spezialisiert auf die Direktsuche von Personen für Geschäftsleitungen und Verwaltungsräte. «Frauen bringen viel häufiger Argumente, manchmal auch Ausreden, warum eine Stelle gerade nicht passt. Männer sind in dieser ersten Phase pragmatischer und unaufgeregter.» Steigen sie in ein Bewerbungsverfahren ein, bereiten sich Frauen «äusserst intensiv» vor, sagt Aebi. Meier berichtet, Frauen, die für ein Verwaltungsratsmandat infrage kommen, hätten häufig vorgängig schon einen Kurs dazu absolviert. Bei Männern sei dies eher die Ausnahme als die Regel.
Doris Aebi verortet die Unsicherheiten der Frauen teilweise in ihrem «Minoritätenstatus» als einzelne Frau in höherer Charge. «Die Spiel- und Kommunikationsregeln werden von den Männern gemacht.» Trotzdem sei Authentizität gefragt, sagt Aebi. Denn passe sich die Frau zu sehr an, komme das nicht gut an.
Davon zu berichten weiss eine Kaderfrau in der Schweiz. In einem anonymisierten Interview für das Buch «Die Selbsterfindung erfolgreicher Führungsfrauen» von Silvia Hess Kottmann sagt sie: «Ich störe einige Leute – Männer wie Frauen –, weil ich Ambitionen habe und vorwärts kommen will. Ich sage zum Beispiel: ‹Ich will später einmal Direktorin sein.› Die Männer, die sagen das. Deshalb darf ich das als Frau doch auch sagen. Aber das stört.»
Tatsächlich dürfen sich Frauen in der Männerwelt nicht einfach wie Männer verhalten. Kay und Shipman sprechen von anderen Spielregeln für Frauen und Männer. «Eine ganze Reihe beunruhigender Studien zeigt, dass wir ernsthafte soziale und berufliche Nachteile erfahren, wenn wir Frauen gleich aggressiv auftreten, wie Männer es tun», schreiben sie. Frauen, die etwa ungebeten ihre Ansichten im Büro des Vorgesetzten kundtun oder bei Sitzungen zuerst das Wort ergreifen, seien unbeliebt oder gälten als «bitch».
Armin Meier beobachtete während seiner Laufbahn als CEO verschiedener Unternehmen, wie sich Frauen durch «typisches lautes Männerverhalten» einschüchtern lassen. Eine Studie der Princeton University wies nach, dass Frauen in (geschäftlichen) Situationen, in denen sie in der Unterzahl sind, bis zu 75 Prozent weniger reden als Männer. Bei Männern lässt sich derselbe Effekt umgekehrt nicht feststellen. Für Kay und Shipman ist offensichtlich, dass sich Frauen unterverkaufen.
An mangelnder Kompetenz dürfte es jedenfalls nicht liegen, dass Frauen auf Chefsesseln nach wie vor in der Minderheit sind. Schliesslich schliessen auch in der Schweiz mittlerweile mehr Frauen als Männer ein Studium erfolgreich ab. Doch stilles, wenn auch fehlerloses Arbeiten bringt Frauen nicht an die Spitze. «Man muss Selbstvertrauen haben, um herausragend zu sein», schreiben Kay und Shipman.
Als Ursache für das geringere Selbstvertrauen führen die Autorinnen Erziehungsunterschiede wie auch genetische und hormonelle Differenzen an. Wichtiger aber ist ihnen dies: Um selbstbewusster zu werden, müssen Frauen aufhören, so viel zu denken, und stattdessen lieber handeln. Sie müssen aufhören, perfekt sein zu wollen und in Kauf nehmen, auch mal zu scheitern. Kay und Shipman sind sich sicher: Selbstvertrauen kann man sich aneignen.