Wenn in ukrainischen Städten Alarmsirenen ertönen, passiert meistens nichts. Ausser in Ortschaften nahe der Front gehen die Ukrainer ihrem Alltag nach, als ob es sich um einen Probealarm handelte. Besonders im Norden und Westen des Landes verstauben die improvisierten Luftschutzkeller, die noch vor wenigen Monaten rege genutzt wurden.
Dennoch schlagen manchmal russische Geschosse ein, wie am 27. Juni in einem Einkaufszentrum im östlichen Krementschuk, in dem mindestens 20 Personen getötet wurden.
Oder am Tag davor in der Hauptstadt Kiew, wo ein Familienvater umkam, als sein Wohnblock von einem Marschflugkörper getroffen wurde. Ein Besuch der Einschlagstelle im Schewtschenko-Distrikt lässt erahnen, was sich die russischen Generäle gedacht haben, als sie teure Tarnkappenlenkwaffen von strategischen Bombern auf Kiew abfeuern liessen. Die Polizei hat die Tatarska-Strasse abgesperrt, wo Feuerwehr und Rettungskräfte in der Ruine eines von Brandspuren geschwärzten Wohnhauses nach Verschütteten suchen.
Während die Fernsehkameras noch auf die Trümmer gerichtet sind, lohnt sich ein Spaziergang zu dem angrenzenden Komplex. Dort befindet sich die staatliche Artem-Fabrik auf einem etwa 300 Meter langen und 100 Meter breiten Gelände.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier eine Maschinenfabrik gegründet, die im Ersten Weltkrieg Kriegsmaterial zu produzieren begann. In den 1950er-Jahren stellte die in der Sowjetunion mit dem Tarnnamen «Werk 485» versehene Fabrik Lenkwaffen her, mit denen Jagdflugzeuge feindliche Maschinen abschiessen konnten. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 produzierte Artem neben Lenkwaffen und Raketen auch Artilleriemunition.
Ob die Fabrik zum Zeitpunkt des Beschusses noch in Betrieb war, lässt sich von aussen nicht beurteilen. Viele Scheiben sind zu Bruch gegangen, und manche Fensterhöhlen wurden mit Spanplatten behelfsmässig geschlossen. Auf dem Trottoir liegen Glasscherben. Im Dach eines Wohnhauses direkt neben der Artem-Fabrik klafft ein riesiges Loch, ein Zeichen, dass mehr als ein Marschflugkörper das Quartier getroffen haben.
Dass ein Wohnblock an der Tatarska-Strasse, in Luftlinie etwa 150 Meter entfernt, ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurde, spricht nicht für die Zielgenauigkeit der Russen. Da ändert es auch wenig, dass das russische Verteidigungsministerium bei solchen Angriffen jeweils betont, dass man «Hochpräzisionswaffen» verwendet habe. Tatsache ist jedenfalls, dass russische Marschflugkörper und ballistische Raketen notorisch ungenau sind.
Der getötete Familienvater war also nicht das Ziel eines gezielten Angriffs auf Zivilisten, sondern – in zynischem Militärslang – ein Kollateralschaden einer Attacke auf eine Waffenfabrik, die bereits bei früheren Gelegenheiten mit Raketen beschossen wurde.
Laut dem ukrainischen Luftwaffenkommando kamen in Kiew moderne russische Tarnkappen-Marschflugkörper des Typs X-101 zum Einsatz. Deren Gefechtskopf ist mit einem Gewicht von etwa 450 Kilogramm eher klein, und das dürfte der Grund sein für die vergleichsweise geringe Opferzahl.
In Krementschuk verwendeten die Russen dagegen riesige Anti-Schiff-Raketen vom Typ X-22 oder einer Nachfolgevariante davon. Der Gefechtskopf wiegt dabei 900 Kilogramm, was die viel grösseren Zerstörungen als in Kiew erklärt. Auf Videos von Überwachungskameras in Krementschuk ist die X-22 oder deren stark ähnelnde Weiterentwicklung X-32 kurz vor dem Einschlag gut zu erkennen.
Die sowjetische X-22 stammt noch aus den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts und war ursprünglich darauf ausgelegt, amerikanische Flugzeugträger zu versenken. Dass Russland solche Uralt-Raketen in der Ukraine einsetzt, scheint zwei Dinge zu belegen: Erstens gehen die Vorräte modernerer Systeme wie der X-101 wohl zur Neige. Zweitens nehmen die russischen Generäle zivile Kollateralschäden offenbar einfach in Kauf, denn das Lenksystem einer Rakete, die eigentlich zur Bekämpfung von Schiffen gedacht ist, kann nicht ohne weiteres präzise auf Bodenziele abgeschossen werden.
Auch in Krementschuk kann man davon ausgehen, dass nicht das belebte Amstor-Einkaufszentrum das eigentliche Ziel der Attacke war. Direkt neben Amstor befindet sich nämlich ein grosser Fabrikkomplex, in dem angeblich Strassenbaumaschinen hergestellt wurden.
Moskau behauptet nun aber, dass in der Fabrik Munition gelagert worden sei, welche die USA und europäische Staaten an die Ukraine geliefert hätten. Diese sei nach dem Angriff mit einer «Hochpräzisionswaffe» explodiert und habe das zu diesem Zeitpunkt geschlossene Einkaufszentrum in Brand gesteckt.
Ob in der Fabrik Munition gelagert war, lässt sich anhand des verfügbaren Bildmaterials nicht beurteilen. Tatsache ist aber, dass zwei Raketen in Krementschuk niedergegangen sind und eine davon direkt am Rand der Fabrikhallen explodierte und dabei einen riesigen Krater hinterliess.
Dadurch kam die Fabrik mit vergleichsweise geringen Schäden davon, und allfällige Munition blieb von der Explosion unberührt. Es gibt jedenfalls keine Aufnahmen von Sekundärdetonationen nach dem Raketeneinschlag, wie das sonst bei Explosionen von Munitionsdepots üblich ist.
Die erste Rakete hinterliess dagegen ein grosses Loch im Einkaufszentrum, und man muss davon ausgehen, dass dieses Geschoss sein eigentliches Ziel deutlich verfehlte. Die beiden Einschlagsstellen liegen gemäss der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nämlich etwa 450 Meter voneinander entfernt.
Human Rights Watch hat sowohl das Einkaufszentrum als auch die danebenliegende Fabrik in den Tagen nach den Raketeneinschlägen besucht. Die Menschenrechtsorganisation kommt in einem Bericht zum Schluss, dass die russischen Behauptungen, wonach das Amstor-Zentrum zum Zeitpunkt des Angriffs geschlossen gewesen und es zu Munitionsexplosionen und danach zu einem Feuer im Konsumtempel gekommen sei, nachweislich nicht zuträfen. Sie fordert nun eine Untersuchung wegen potenzieller Kriegsverbrechen.
Am Freitag meldeten die ukrainischen Behörden einen weiteren X-22-Angriff auf ein neunstöckiges Wohnhaus in der südlichen Hafenstadt Odessa. Mindestens 18 Menschen seien getötet und 39 verwundet worden. Dabei könnte es sich um eine Vergeltungsaktion handeln, weil ukrainisches Artilleriefeuer kurz zuvor russische Truppen auf einer wichtigen Insel im Schwarzen Meer zum Rückzug gezwungen hat.
(aargauerzeitung.ch)
wird sich wohl so schnell auch nicht ändern.