Ein Meer aus Menschen, Protestbannern und Serbien-Flaggen. Wutgeschrei steigt in den Nachthimmel über Belgrad: In der serbischen Hauptstadt haben sich am Samstag erneut Hunderttausende Studenten versammelt, um gegen die Regierung von Präsident Aleksandar Vucic zu demonstrieren. Etliche von ihnen waren tagelang zu Fuss in die Hauptstadt gereist. Für Vucic, dem Kritiker einen zunehmend autokratischen Führungsstil vorwerfen, entwickelt sich die Protestwelle immer mehr zur Bewährungsprobe.
Aleksandar Ivkovic forscht am Centre for Contemporary Politics in Belgrad und sieht mit der gegenwärtigen Protestwelle das Ende der Vucic-Ära eingeläutet:
Und weiter: «Vucic mag ein Meister des politischen Spiels sein, aber die Studenten sind gerade dabei, die Spielregeln zu ändern.» Was sie tun, werde in grossen Teilen der Gesellschaft den Wunsch nach einem paolitischen Wandel schüren.
Bereits in den vergangenen Tagen hatten sich Studenten aus allen Landesteilen auf den Weg gemacht, um aus Städten wie Novi Sad oder Nis in die Hauptstadt zu pilgern. In den Dörfern entlang des Fussmarsches bot sich meist dasselbe Bild: Mit Serbien-Flaggen und Jubel wurden die Ankömmlinge begrüsst, Bewohner versorgten sie mit Selbstgekochtem, während Feuerwerk den Nachthimmel erhellte.
Seit Monaten befindet sich das Westbalkanland fest im Griff von Massenprotesten. Als Auslöser gilt der Dacheinsturz am Bahnhof von Novi Sad. Bei dem Unglück am 1. November waren 15 Menschen gestorben.
Die Regierungsgegner, allen voran Studierende, vermuten unfachmännische Arbeit und Korruption als Ursache. Sie fordern Aufklärung und politische Verantwortung. Letztere sehen die Regierungskritiker auch durch den Rücktritt von Ministerpräsident Milos Vucevic und dessen Regierung Ende Januar nicht übernommen.
Vor kurzem erreichte die Wutstimmung auch das serbische Parlament: In einer bis dahin beispiellosen Störaktion zündeten Oppositionsabgeordnete Rauchbomben im Sitzungssaal und lieferten sich Handgreiflichkeiten mit Vertretern der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS).
Vucic steht mit dem Rücken zur Wand. Die Protestwelle bezeichnete er als «drei Monate der Blockaden, Zerstörung, Faulheit, Verantwortungslosigkeit und Verwüstung».
Dazu meint Politologe Ivkovic:
Würde der Staatschef den Forderungen der Regierungsgegner nachkommen, würde dies unweigerlich zur Verhaftung «einflussreicher Mitglieder der Regierungselite» führen. Zugleich würde eine Niederschlagung durch die Polizei die Proteste nur weiter anheizen, so Ivkovic.
Die Stimmung in Belgrad kocht bereits seit Tagen. Für Aufsehen sorgte vor dem Wochenende schon der dubiose Auftritt von Gegendemonstranten. Unter dem Banner «Studenten, die lernen wollen» besetzten sie mit Zelten einen Park im Belgrader Regierungsviertel, um ein Ende der Protestwelle zu fordern. Ein regionaler Fernsehsender will herausgefunden haben: Einige von ihnen sollen für ihre Aktion bezahlt worden sein.
Noch sei es schwierig, vorherzusagen, ob die Proteste das Ende der Vucic-Präsidentschaft bedeuten, meint Adnan Cerimagic, Analyst der European Stability Initiative (ESI) in Berlin. Doch auch er betont: «Intensität, Dauer und Art» der Proteste seien beispiellos.
Bereits im Jahr 2000 führten Massenproteste in Belgrad zum Rücktritt des jugoslawischen Machtherren Slobodan Milosevic. Derzeit spannt sich der Einfluss von Vucic, einst Milosevics Propagandaminister, über alle Regierungsebenen. Auf ihn hören Serbiens Justiz, eine Reihe regimetreuer Boulevardmedien und selbst die einflussreiche serbisch-orthodoxe Kirche.
Das werde sich über kurz oder lang ändern, schätzt Thinktank-Forscher Ivkovic in Belgrad: «Für Vucic besteht der Ausweg entweder darin, nichts zu tun und zu hoffen, dass die Proteste irgendwann aufhören, oder in einer Art Machtteilungsabkommen mit der Opposition oder anderen Akteuren einzugehen.» (aargauerzeitung.ch)