Wie kein anderer der Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist Bosnien-Herzegowina selbst ein kleines Jugoslawien: Neben grösstenteils muslimischen Bosniaken leben auch mehrheitlich serbisch-orthodoxe Serben und katholische Kroaten in dem Vielvölkerstaat. Dessen fragile staatliche Einheit stellt vor allem die serbische Minderheit immer wieder infrage – besonders jetzt wieder: Der von Russland unterstützte Serbenführer Milorad Dodik fordert die Zentralregierung in Sarajevo und die EU immer stärker heraus.
Wie heiss die Suppe gegessen wird, die jetzt gerade gekocht wird, kann niemand sagen. Dodik, der die serbische Teilrepublik in Bosnien-Herzegowina seit Jahren dominiert, hat schon verschiedentlich mit deren Sezession gedroht, ohne dies jemals zu verwirklichen. Doch der amerikanische Rückzug aus Europa, der von der Regierung Trump immer offener betrieben wird, könnte sich auch auf den Westbalkan auswirken.
Am 26. Februar verurteilte das Oberste Gericht Bosnien-Herzegowinas den Präsidenten des teilautonomen Landesteils Republika Srpska, Milorad Dodik, in erster Instanz zu einem Jahr Gefängnisstrafe und sechs Jahren Amtsverbot. Das Gericht fand, Dodik habe Entscheidungen des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Christian Schmidt, missachtet. Dodik hatte vor der Urteilsverkündung damit gedroht, falls er verurteilt werde, werde dies «Bosnien-Herzegowina den Todesstoss versetzen». Zudem hatte er angekündigt, den Hohen Repräsentanten verhaften zu lassen, falls dieser in die Republika Srpska käme.
Nach dem Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist, kündigte Dodik einen Zwei-Phasen-Plan an: den Ausstieg aus dem Friedensabkommen von Dayton aus dem Jahr 1995 und den Rückzug aus der gemeinsamen Armee, danach die Bildung einer Konföderation zwischen der Republika Srpska und Serbien. Am 5. März unterzeichnete der Serbenführer zudem ein Gesetz, das Polizei und Justiz des bosnischen Zentralstaats aus der Republika Srpska verbannt. Bosnischen Serben, die weiterhin für diese Institutionen arbeiten, drohen gemäss diesem Gesetz bis zu fünf Jahre Haft.
Der Präsident Serbiens, Aleksandar Vucic, reiste unterdessen nach Banja Luka – dort residiert die Regierung der Republika Srpska –, um Dodik die Unterstützung Serbiens zuzusichern. Vucic bezeichnete das Urteil des Verfassungsgerichts als «schändlich»; Ziel sei «die Zerstörung der Republika Srpska». Schon am Tag des Urteils gegen Dodik hatte Vucic eine Dringlichkeitssitzung des serbischen Nationalen Sicherheitsrates anberaumt. Dieser nannte das Urteil «undemokratisch, unzivilisiert und rechtswidrig». Und der serbische Vize-Premier Aleksandar Vulin, der als «Mann Moskaus» gilt, drohte während eines Besuchs in der russischen Hauptstadt: «Bosnien war seinem Ende noch niemals so nah.»
Am 7. März setzte das bosnische Verfassungsgericht das von Dodik unterzeichnete Gesetz aus. Die Massnahme gelte «bis zur Bekanntgabe einer endgültigen Entscheidung», erklärte das Gericht. Der Aussenminister Bosnien-Herzegowinas, Elmedin Konakovic, bezeichnete Dodiks Gesetz als «lehrbuchmässigen Putsch». Der Hohe Repräsentant Schmidt sagte am Tag danach, mit Dodiks «Angriff auf die Souveränität und territoriale Integrität Bosnien und Herzegowinas» sei «eine rote Linie überschritten worden». Erstmals kritisierte Schmidt auch explizit die serbische Regierung; dieser müssten nun «deutlich Grenzen aufgezeigt» werden. Mittlerweile hat die bosnische Staatsanwaltschaft Haftbefehle für die Politik-Spitze der Republika Srpska ausgestellt. Deren Präsident Dodik, Ministerpräsident Radovan Viskovic und Parlamentspräsident Nenad Stevandic werden wegen verfassungsfeindlicher Aktivitäten gesucht.
Angesichts der sich verschärfenden Spannungen kündigte die EU-Stabilisierungsmission Eufor, die im Rahmen der Operation Althea rund 1500 Soldaten in Bosnien-Herzegowina stationiert hat, inzwischen eine «vorübergehende Verstärkung» ihrer Kräfte vor Ort an. Es handle sich um eine «proaktive Massnahme, die darauf abzielt, Bosnien und Herzegowina im Interesse aller seiner Bürger zu unterstützen». Am 10. März war dann NATO-Generalsekretär Mark Rutte Sarajevo zu Besuch und sicherte der Zentralregierung seine Unterstützung zu. Das Militärbündnis werde es nicht zulassen, dass in dem Balkanland «ein Sicherheitsvakuum» entstehe, sagte Rutte.
Bosnien-Herzegowina ist ein fragiles Staatsgebilde, das manche Kritiker sogar als «failed state» betrachten. Dies liegt in der Geschichte des Landes begründet, das seine Unabhängigkeit dem Zerfall Jugoslawiens ab 1991 verdankt. Am 1. März 1992 stimmte eine grosse Mehrheit der bosnischen Muslime und Kroaten für die Unabhängigkeit, während die meisten Serben das Referendum boykottierten. Die bosnischen Serben hatten bereits zuvor die Republika Srpska ausgerufen; zudem bekämpften sie die Abspaltung von Jugoslawien, die sie zu einer Minderheit in dem neuen Staat gemacht hätte, mit paramilitärischen Gruppen und mit Unterstützung der jugoslawischen Armee. Der Konflikt eskalierte nach der Anerkennung Bosnien-Herzegowinas durch die Europäische Gemeinschaft (EG) und die USA.
Dem Krieg fielen rund 100'000 Menschen zum Opfer. Besonders das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 löste weltweit Entsetzen aus: Mehr als 8000 Bosniaken wurden von serbischen Truppen ermordet; das Kriegsverbrechen wurde vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und vom Internationalen Gerichtshof (IGH) als Genozid eingestuft. Darauf flogen NATO-Kampfjets Einsätze gegen die serbischen Truppen und die USA erhöhten den diplomatischen Druck auf die Konfliktparteien, mit Verhandlungen zu beginnen.
Das Abkommen von Dayton im November 1995 beendete den Bosnienkrieg nach dreieinhalb Jahren. Es schrieb Bosnien-Herzegowina als unabhängigen Staat in den international anerkannten Grenzen fest und bestimmte, dass der ungeteilte Staat aus zwei Entitäten bestehen sollte: der Republika Srpska mit 49 Prozent und der Föderation von Bosnien und Herzegowina mit 51 Prozent des Territoriums. Die gesamtstaatlichen Institutionen umfassen das Zwei-Kammer-Parlament, das Präsidium, den Ministerrat, das Verfassungsgericht und die Zentralbank. Die Staatsebene hat im Vergleich mit den Teilrepubliken jedoch nur wenige Kompetenzen.
Der Traum eines alle serbischen Siedlungsgebiete umfassenden grossserbischen Staates war mit dem Abkommen von Dayton vorerst ausgeträumt. Doch die beiden Entitäten in Bosnien-Herzegowina wuchsen keineswegs zu einem funktionierenden Staatswesen zusammen – es bildete sich eher eine Ethnokratie, in der die Politiker das Wohl der eigenen ethnischen Gruppe über alles andere stellten. Die Bosniaken, knapp die Hälfte der rund 3,2 Millionen Einwohner, streben einen Zentralstaat an, während die Serben – rund ein Drittel der Bevölkerung – die Abspaltung ihrer Teilrepublik verfolgen. Diese beiden Völker und die Kroaten, die etwa 15 Prozent der Einwohner ausmachen, blockieren einander und schwächen so die zentralen politischen Institutionen.
Besonders die Führer der Republika Srpska erwiesen sich als Separatisten, die immer wieder die Existenzberechtigung Bosnien-Herzegowinas anzweifelten. Bestes Beispiel dafür ist der aktuelle Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik. Er bezeichnete das Land wiederholt als nicht zukunftsfähiges Konstrukt und gar als «Teufelsstaat». Seine Politik zielt offen darauf ab, die Republika Sprska für unabhängig zu erklären und den bosnisch-herzegowinischen Staat zu sprengen.
Der serbische Irredentismus, also das Bestreben, möglichst alle serbischen Siedlungsgebiete an den serbischen Staat anzuschliessen, ist trotz seines Anteils an der Katastrophe der Jugoslawienkriege nie verschwunden. Spätestens seit 2020 segelt er unter dem Schlagwort «Srpski svet» («Serbische Welt») – was unweigerlich an das Konzept «Russki mir» («Russische Welt») erinnert, mit dem der russische Präsident Wladimir Putin die aggressive Aussenpolitik Russlands bis hin zur Invasion in der Ukraine legitimiert. Es ist daher kaum verwunderlich, dass der Kreml Dodik und dessen Partei öffentlich unterstützt.
Tatsächlich unterstützt Russland die serbischen Separatisten und Serbien schon lange. Bereits 2022 richtete Putin Drohungen an die NATO und die EU; der damalige NATO-Generalsekretär Stoltenberg fürchtete sogar eine russische Intervention. Die russisch-serbische Freundschaft hat historische Gründe, die noch vor den Ersten Weltkrieg zurückreichen. Die NATO-Intervention in den 1990er-Jahren hatte man deshalb in Moskau mit Argwohn verfolgt und als Provokation empfunden.
Russen und Serben teilen aber auch eine einschneidende Erfahrung, die nicht lange zurückliegt: Beide Völker beherrschten de facto einen Vielvölkerstaat, fanden sich aber nach dessen Zusammenbruch in einigen Nachfolgestaaten als Minderheit wieder. Auch in den Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgingen, gab – und gibt es noch – eine bedeutende russische Diaspora, beispielsweise in den baltischen Staaten. Diese Diaspora lässt sich zum Teil zur Destabilisierung der neuen unabhängigen Staaten instrumentalisieren.
Belgrad laviert zwischen der EU und Russland: Serbien ist einerseits EU-Beitrittskandidat, die EU ist sein wichtigster Handelspartner und Serbien hat in der UNO auch gemeinsam mit der EU den russischen Angriffskrieg in der Ukraine verurteilt. Andererseits bestehen enge wirtschaftliche Verbindungen zu Russland: Serbien erhält billig Rohstoffe aus Russland, das auch die serbische Armee militärisch aufrüstet. Die serbische Ölindustrie liegt grösstenteils in russischen Händen und der grösste serbische Gasspeicher Banatski Dvor gehört mehrheitlich dem russischen Staatskonzern Gazprom. Belgrad, das dem Kreml ideologisch deutlich näher steht als Brüssel, hat sich denn auch zum Ärger der EU den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen.
Ein konstantes Ziel der Angriffe Dodiks und der serbischen Sezessionisten ist der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina. Dieser von der UNO ernannte Beauftragte – seit 2021 Christian Schmidt, ein ehemaliger deutscher Landwirtschaftsminister – soll die Umsetzung des Friedensvertrags von Dayton überwachen und sichern. Zu diesem Zweck ist er mit umfassenden Vollmachten ausgestattet und kann nach Gutdünken Gesetze erlassen oder aufheben. Zudem kann er neue Behörden schaffen und gewählte Politiker aus dem Amt entfernen.
Diese Machtfülle besteht jedoch weitgehend nur in der Theorie. In der Praxis sieht es anders aus, wie der jüngste Schlagabtausch zwischen dem Hohen Repräsentanten und Dodik zeigt. Schmidt warf der Führung der Republika Srpska vor, sie destabilisiere Bosnien-Herzegowina, und forderte sie dazu auf, sofort alle Aktivitäten einzustellen, «die das Dayton-Friedensabkommen und die verfassungsmässige und juristische Ordnung in Bosnien und Herzegowina aushöhlen». Dodik konterte höhnisch mit der Frage, ob Schmidt denn Panzer in Banja Luka auffahren lassen werde, um ihn am Betreten seines Büros zu hindern.
Dodik bezeichnet das Amt des Hohen Repräsentanten als illegal und usurpiert und widersetzt sich dessen Anordnungen. Die permanent im UNO-Sicherheitsrat vertretenen Mächte Russland und China haben wiederholt versucht, das Amt abzuschaffen, bisher jedoch ohne Erfolg. Russland verhindert aber, dass Schmidt im UNO-Sicherheitsrat seinen kritischen Bericht vortragen kann, in dem er Dodik für die Zuspitzung der Spannungen verantwortlich macht.
Die Institution des Hohen Repräsentanten stösst freilich auch im Westen auf Kritik: Sie richtet sich primär gegen die Machtfülle des Amtes und seine mangelnde demokratische Kontrolle. Bemängelt wird aber auch die Ineffizienz dieser Institution. «Bosnien-Herzegowina braucht keinen Prokonsul, schon gar nicht einen, der seine Ukasse nicht durchsetzen kann. Wenn der Hohe Repräsentant überhaupt etwas bewirkt, dann nur, dass er die kollektive Verantwortungslosigkeit der Politiker im Land befördert», kommentiert etwa Andreas Ernst in der NZZ.
Die Nachkriegsordnung auf dem Balkan ist zum massgeblichen Teil das Werk der USA. Zu dieser Neuordnung zählt nicht nur das Abkommen von Dayton 1995, dem Bosnien-Herzegowina seine politische Gestalt verdankt, sondern auch die Abspaltung des Kosovo von Serbien 2008. Insbesondere mit Letzterem hat sich die serbische Führung nie wirklich abgefunden, und seit Ende 2022 haben auch dort die Spannungen deutlich zugenommen und der serbische Präsident Vucic liess Truppen an der Nordgrenze des Kosovo aufmarschieren.
Mit dem Einzug von Donald Trump ins Weisse Haus ist diese Nachkriegsordnung nicht mehr unbedingt garantiert. Wie sich der neue US-Präsident hier positionieren wird, ist noch unklar – möglicherweise kommt es auch hier zum sicherheitspolitischen Rückzug der USA. Aus Trumps Umfeld heisst es, dass das mit Russland verbündete Serbien der Favorit des Präsidenten in Südosteuropa sei. Nahrung erhielten solche Ängste mit dem Besuch von Trump-Intimus Rudy Giuliani in Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska. Giuliani trug dabei eine Baseballkappe mit dem Schriftzug «Make [Republika] Srpska Great Again».
Entsprechend betonte der Führer der bosnischen Serben, Milorad Dodik, die Umstände hätten sich für die Republika Srpska geändert: Zuvor seien deren Schritte unter US-Präsident Joe Biden noch als separatistisch bezeichnet worden, doch seine [Dodiks] Verurteilung habe der neue US-Aussenminister Marco Rubio nur noch kommentarlos zur Kenntnis genommen.
Allerdings verurteilte die US-Vertretung in Bosnien-Herzegowina die von Dodik unterzeichneten Gesetze, wonach Polizei und Justiz des bosnischen Zentralstaats aus der Republika Srpska verbannt werden. Sie betonte, dass sie sich «gegen jegliche Massnahmen einheimischer bosnischer Führungspersönlichkeiten stellen wird, die die Sicherheit und Stabilität Bosniens und Herzegowinas gefährden». Und auch Rubio meldete sich auf X zu Wort und verurteilte Dodiks Vorgehen:
Ich finde, hier muss man schon unterscheiden, ob sich ein Teil des Landes von sich aus abspalten und sich einem Nachbarland anschliessen will, oder ob ein Nachbarstaat einen Angriffskrieg mit Anexionsabsichten führt.
Richtig wäre, die Menschen in den serbischen Gebieten in einer freien (also nicht so wie in den russisch annektierten Gebieten) zu befragen. So wie im Jura.