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Wahlen Brasilien 2022: «Über die Umwelt wird nicht viel gesprochen»

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Brasilien vor Präsidentenwahl: «Wahlkampf ist hier wie Fussball»

Brasilien befindet sich mitten in einem polarisierten Wahlkampf. Der amtierende Rechtspopulist Bolsonaro liegt in den Umfragen klar hinter Herausforderer Lula. Drohen Unruhen wie in den USA, wenn «Südamerikas Trump» verliert? Ein Gespräch mit meiner Freundin aus Brasilien über die Stimmung im Land, das Hungerproblem und die Wahlversprechen Lulas.
20.09.2022, 17:3922.09.2022, 08:43
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Meine Freundin Joana lebt in Rio. Und sie lebt in einem zerrissenen Land. Am 2. Oktober wählt Brasilien einen neuen Präsidenten und die Wahl polarisiert die Bevölkerung wie kaum eine andere in der jüngeren Geschichte des Landes.

Der amtierende Präsident und Rechtspopulist Jair Bolsonaro gilt als Trump Südamerikas, seine Corona-Politik war heftig umstritten, seine Umfragewerte sind mittlerweile im Keller.

Der Herausforderer und ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hingegen sass nach seiner Amtszeit nach einem umstrittenen Prozess wegen angeblicher Geldwäsche und Korruption im Gefängnis. 2021 wurde sein Urteil aufgehoben. Jetzt liegt er in den Umfragen klar vor Bolsonaro.

Supporters of Brazil's former President Luiz Inacio Lula da Silva, who is running for reelection, cheer during a campaign rally in Taboao da Serra, on the outskirts of Sao Paulo, Brazil, Saturday ...
10. September 2022: Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva, der für eine Wiederwahl kandidiert, jubeln während einer Wahlkampfveranstaltung. Lula versprach, Brasilien «wieder glücklich» zu machen. Bild: keystone

Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie habe ich mich mit Joana oft über Brasiliens Politik ausgetauscht und über Bolsonaro gewitzelt. Während der Pandemie war es Joana nicht mehr zum Schmunzeln zumute. Sie arbeitet in einem Krankenhaus in Rio und bekam Bolsonaros Versagen in der Corona-Politik unmittelbar zu spüren.

Kurz vor den Wahlen unterhielt ich mich erneut mit Joana. Über die Stimmung im Land. Über Bolsonaros Amtszeit. Und natürlich über Fussball. Denn selbst Wahlkampf ist Fussball.

Zur Person: Joana ist gebürtige Brasilianerin und lebt in Rio. 2018 – im Jahr, als Bolsonaro an die Macht kam – reiste sie durch die Schweiz und machte unter anderem Halt in Genf, Bern und Zürich.
Zur Person: Joana ist gebürtige Brasilianerin und lebt in Rio. 2018 – im Jahr, als Bolsonaro an die Macht kam – reiste sie durch die Schweiz und machte unter anderem Halt in Genf, Bern und Zürich.bild: joana

Joana, wie ist die Stimmung in Brasilien?
Joana: Im Moment stehen die Wahlen im Mittelpunkt aller Diskussionen. Jeder spricht darüber, vor allem in den sozialen Medien. Hier in Brasilien erleben wir die schwierigste politische Zeit seit einem Jahrzehnt, die Gesellschaft ist tief polarisiert. Wir hatten gerade den Unabhängigkeitstag (7. September, Anm. d. Red.), der die Diskussion noch einmal intensivierte.

Was beschäftigt die Brasilianer am meisten?
Es gibt sehr viel zu diskutieren, aber meiner Meinung nach beunruhigt die Brasilianer vor allem die Art und Weise, wie der nächste Präsident die Demokratie führen wird. Bolsonaros Opposition kritisiert, wie er das Land durch die Pandemie geführt hat, und sieht ihn als antidemokratische Figur. Die meisten von ihnen halten Lula für einen unschuldigen Mann. Auf der anderen Seite ist für Lulas Gegner klar, dass er Verbrechen im Zusammenhang mit Korruption begangen hat. Diese Diskussionspunkte stehen derzeit im Vorgrund.

«In Brasilien sagen wir immer, dass der Wahlkampf zum Fussball wird. Die Leute wählen mit sehr viel Emotionen und Wut.»

Gemäss den aktuellsten Umfragen liegt Ex-Präsident Lula klar vorne und wird die Wahl gewinnen. Warum ist Bolsonaro so unbeliebt geworden?
Er hatte dem Volk vor seiner Wahl sehr viel versprochen und kaum etwas davon eingehalten. Er versprach beispielsweise, gegen die Korruption im Land vorzugehen. Aber ausser mit Skandalen und bizarren Aussagen auf sich aufmerksam zu machen, hat er in Brasilien nichts gebracht.

Was für Aussagen?
Ich könnte dir so viele Beispiele nennen. Aussagen, die ein Präsident einfach nicht sagen darf, Aussagen unter der Gürtellinie oder einfach nur kindische Bemerkungen. Er spielte beispielsweise die Pandemie als Grippe herunter und als tausende von Menschen starben, sagte er, er könne nichts dafür, er sei schliesslich kein Totengräber.

Supporters of Brazil's former President Luiz Inacio Lula da Silva, who is running for reelection, attend a campaign rally in Taboao da Serra, on the outskirts of Sao Paulo, Brazil, Saturday, Sept ...
10. September 2022: Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva nehmen an einer Wahlkampfveranstaltung in São Paulo teil. Bild: keystone

Die Pandemie hat ihm das Genick gebrochen?
Ja, die Pandemie ist wohl der Hauptgrund, warum viele seiner Wähler ihn nicht mehr ausstehen können und loshaben wollen.

Sein Umgang mit der Pandemie erinnerte stark an Trump.
Er wird in Brasilien nicht umsonst als Trump Südamerikas bezeichnet.

Ähnlich wie Trump hat Bolsonaro bereits mehrfach das Wahlsystem und die Umfragewerte angezweifelt und seinen Anhängern erklärt, dass er eine Wahlniederlage nicht akzeptieren würde. Fürchtest du dich davor, dass es in Brasilien zu ähnlichen Zuständen kommen könnte wie in den USA nach Trumps Niederlage?
Ich glaube, es wird einige Brasilianer geben, die das Ergebnis nicht akzeptieren werden. Aber ich denke nicht, dass es grosse Ausschreitungen geben wird. Wenn Bolsonaro verliert, wird er vermutlich behaupten, dass die Wahl manipuliert wurde, und das digitale Wahlsystem Brasiliens anprangern. Doch ich denke nicht, dass er undemokratisch handeln wird. Dazu hat er schlicht zu wenig Unterstützer in der Armee und in der Bevölkerung.

«Das Wichtigste ist, zu verstehen, dass wir in Brasilien oft nicht für einen Kandidaten stimmen, weil wir ihn mögen, sondern weil wir den anderen hassen.»

Wer unterstützt den aktuellen Präsidenten denn noch?
Bolsonaro holt Stimmen bei den Evangelikalen, den klassischen Liberalen, die für freien Markt, bürgerliche Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit sind, – den Konservativen und der Landbevölkerung.

Und Lula?
Er kann auf die kulturelle Elite, die Jungen und die Menschen aus dem Nordosten – dem Armenhaus Brasiliens – zählen. Aber auch Leute aus der Mitte wandern nun ab und stimmen für Lula.

An Indigenous man holds a Brazilian national flag painted in red to symbolize blood, and with the words "Bolsonaro get out" written in Portuguese, during an Indigenous protest against Violen ...
Ein indigener Mann hält während eines Protestes eine brasilianische Nationalflagge mit den Worten «Bolsonaro raus», 18. September 2022.Bild: keystone

Lula war bereits zwischen 2003 und 2010 Brasiliens Präsident. Er wurde für seinen Kampf gegen die extreme Armut gelobt und konnte beachtliche Erfolge im Kampf gegen den Hunger verbuchen. Mittlerweile ist der Hunger wieder zurück im Land. Kann Lula das Problem wieder in den Griff bekommen?
Lula hat den Hunger tatsächlich reduziert. Er half, das Problem zu verstehen und zu beheben. Das Transferprogramm «Bolsa Familia», das den armen Bevölkerungsschichten zugutekommt, hat er enorm ausgeweitet. Bei dem Programm erhalten Haushalte mit niedrigen Einkommen monatliche Unterstützung – ohne die Verpflichtung einer wirtschaftlichen Gegenleistung. Ich denke, dass er das Hungerproblem wieder in den Griff bekommen könnte. Dies erfordert aber einige Massnahmen, denn die Bezeichnung Armut hat sich in den letzten Jahren stark verändert.

Was meinst du damit?
Viele arme Menschen werden heutzutage von der Regierung als Mittelschicht eingestuft. Sie haben zwar mehr Einkommen als früher, leben aber dennoch an der Armutsgrenze. Das dürfte Lula in die Hände spielen.

«Wenn Bolsonaro verliert, wird er vermutlich behaupten, dass die Wahl manipuliert wurde und das digitale Wahlsystem Brasiliens anprangern.»

Ein anderes Thema ist die Zerstörung von Brasiliens riesigen Wäldern, die hat unter Bolsonaro dramatisch zugenommen. Lula will dagegen vorgehen. Er verspricht unter anderem, dass künftig kein Baum mehr abgeholzt werden darf, um Soja oder Mais anzupflanzen. Wie realistisch schätzt du dieses Wahlversprechen ein?
Ich glaube nicht, dass er dies tun kann, denn Brasilien befindet sich in einer grossen Wirtschaftskrise und wir sind stark abhängig vom Export von Rohstoffen. Ich denke, es ist mehr ein Versprechen als eine wirkliche Absicht.

Wie fest setzt sich die Bevölkerung Brasiliens überhaupt mit Umweltfragen auseinander?
Zurzeit wird nicht viel über die Umwelt gesprochen. Nicht, weil wir uns nicht dafür interessieren, sondern weil andere Dinge im Mittelpunkt der Diskussionen stehen, wie Korruption, Skandale, die frühere Inhaftierung Lulas sowie die Wirtschaft.

Lula wurde 2017 wegen angeblicher Korruption und Geldwäsche verurteilt. Wie sehr spielt dies Bolsonaro in die Karten?
Das ist schwierig zu sagen. Das Wichtigste ist, zu verstehen, dass wir in Brasilien oft nicht für einen Kandidaten stimmen, weil wir ihn mögen, sondern weil wir den anderen hassen. Hier in Brasilien sagen wir immer, dass der Wahlkampf zum Fussball wird. Die Leute wählen mit sehr viel Wut und Emotionen.

T-shirts with the face of the president of Brazil and candidate for re-election Jair Bolsonaro are on display for sale before a service at the Assembly of God Victory in Christ Church in celebration o ...
15. September 2022: T-Shirts mit dem Gesicht des brasilianischen Präsidenten werden vor einem Gottesdienst in Rio de Janeiro zum Verkauf angeboten. Bild: keystone

Wovor fürchten sich Bolsonaros Unterstützer?
Sie fürchten sich vor allem vor Lulas linker Mentalität. Er sagte, dass er die Medien aufgrund von Fakenews kontrollieren werde. Zudem will er die reichen Menschen mehr besteuern, den Mindestlohn sowie die Ausgaben für Sozialleistungen erhöhen. Bolsonaros Wähler befürchten, dass er fiskalisch nicht verantwortlich handeln würde.

Was denkst du, wer wird nächster Präsident?
Ich denke, Lula wird gewinnen. Denn ich glaube, dass viele, die bei den letzten Wahlen Bolsonaro gewählt haben, nun für Lula stimmen werden, weil sie genug von Bolsonaros Politik haben.

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quelle: epa/kyodonews pool / song kyung-seok / pool
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30 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Sälüzäme
20.09.2022 19:19registriert März 2020
Da besteht ja Hoffnung dass ein weiterer Spinner à la Trump verschwindet.

Jetzt müssen nur noch Erdi und Orban das gleiche machen.
Bei Xi könnte es länger dauern und bei Putin schneller gehen.
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Juliet Bravo
20.09.2022 18:20registriert November 2016
Brasilien ist polarisiert. Aufrufe zu Gewalt kommen dabei aber nur von einer Seite: von den Bolsominions: sie hetzen gegen Frauen, die „Linken“, die Kulturschaffenden, gegen Sexuelle Minderheiten, gegen Indigene, Arme, Umweltschützer, gegen die Bevölkerung im Nordeste und so weiter.
Das positive passiert gerade: Die Mitte stellt sich klar hinter Lula. Erst kürzlich haben sich auch 8 ehemalige Präsidentschaftskandidierende aus allen erdenklichen Richtungen hinter Lula gestellt. Inkl. dem ehemaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso.
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Orakel
20.09.2022 20:14registriert Dezember 2021
Erfreuliche Nachrichten. Hoffen wir, dass der Populist verliert und wir nicht die gleichen Szenen wie in den USA sehen müssen.
Ich drücke Lula die Daumen👍
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