Beginnen wir mit dem Krieg im Nahen Osten. Ist Wladimir Putin der eigentliche Profiteur dieses Konflikts?
Ben Hodges: Er ist der grösste Profiteur, denn die Aufmerksamkeit des Westens, vor allem der USA, hat sich von der Ukraine ab- und dem Nahen Osten zugewandt. Das amerikanische Repräsentantenhaus will nun sogar die Hilfe für Israel zulasten der Ukraine bevorzugen.
Putin scheint in diesem Konflikt eine zweifelhafte Rolle zu spielen.
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu dachte, er hätte einen guten Draht zu Putin. Jetzt hat ihn der Kreml eiskalt fallen gelassen. Für Putin ist ein gutes Verhältnis zum Iran offensichtlich viel wichtiger. Ich bezweifle auch, dass die vielen Demonstrationen für die Palästinenser in europäischen Städten spontan entstanden sind. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Kreml dabei mitspielt.
Man spricht oft von einer neuen «Achse des Bösen», die aus Russland, China und dem Iran gebildet wird. Ist das Übertreibung, oder ist etwas dran?
Es macht strategisch Sinn, sich eine solche Achse vorzustellen. Daher müssen wir gleichzeitig der Ukraine helfen, Russland zu besiegen, und den Kampf Israels gegen die Hamas unterstützen. Wir müssen die Israeli jedoch auch dazu drängen, unschuldige Zivilisten zu verschonen. Iran müssen wir davon abhalten, in den Konflikt einzugreifen, und China müssen wir klarmachen, dass der Westen genügend Kapazitäten und den Willen hat, gleichzeitig Russland und die Hamas zu besiegen und Iran unter Kontrolle zu halten.
Das ist nicht gerade eine einfache Aufgabe.
Wir befinden uns in einer ähnlichen Lage wie die Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Sie mussten ihre Industrie so organisieren, dass sie gleichzeitig Nazi-Deutschland und die Japaner besiegen konnten.
Ist der Westen für diese Aufgabe gerüstet? Bisher haben wir von der Friedensdividende gezehrt.
Wir befinden uns nicht mehr in Friedenszeiten, das ist offensichtlich. Das heisst nicht, dass wir in den Krieg ziehen müssen. Doch die beste Art, den Frieden zu sichern, besteht darin, sich auf den Krieg vorzubereiten.
Was bedeutet dies konkret?
Wir müssen den Iran daran hindern, den Nahost-Konflikt weiter anzuheizen, und die Russen, ihren Krieg gegen die Ukraine fortzusetzen. Den Chinesen müssen wir klar signalisieren, dass eine Okkupation von Taiwan ein Riesenfehler wäre.
Ist China der Leitwolf in dieser neuen «Achse des Bösen»?
Die Details der Zusammenarbeit kenne ich nicht, doch offensichtlich betrachtet China Russland als seinen Juniorpartner. Peking will einen Kollaps der Russischen Föderation verhindern, nicht aus Liebe, sondern wegen der billigen Rohstoffe. Peking erteilt zwar keine Befehle, doch Russland ist weit mehr auf China angewiesen als umgekehrt.
Die Russen beziehen auch massenhaft Drohnen aus dem Iran.
Das erstaunt mich wirklich. Warum ist die militärische Supermacht Russland auf Drohen aus dem Iran angewiesen?
Und Artillerie aus Nordkorea.
Das lässt mich an der angeblichen Stärke der russischen Armee zweifeln. Es deutet darauf hin, dass die Russen Probleme mit ihrer Kriegswirtschaft haben. Sie mögen lösbar sein, doch aktuell sind sie es offensichtlich nicht. Mich beunruhigt die Tatsache, dass die Iraner im Gegenzug von den Russen wahrscheinlich Nuklear-Technologie erhalten.
Wenn Putin der Profiteur des Nahost-Konflikts ist, sind die Ukrainer dann die Verlierer?
Sollten wir nicht in der Lage sein, die Ukraine weiterhin zu unterstützen, dann wäre dies tatsächlich der Fall. Mike Johnson, der neue Speaker des Abgeordnetenhauses, hat erklärt, die Hilfe an die Ukraine sei nicht mehr dringlich. Das ist ein Geschenk an den Kreml. Für Putin gibt es kaum Hoffnung in der Ukraine, es sei denn, wir lassen mit unserer Hilfe nach. Präsident Joe Biden muss den Amerikanern klarmachen, weshalb es für uns so wichtig ist, dass Putin scheitert. Wir unterstützen die Ukraine nicht aus wohltätigen Gründen. Ein Sieg der Russen würde auch uns auf allen Ebenen treffen, ökonomisch und geopolitisch. Zum Glück ist die Unterstützung für die Ukraine im US-Senat nach wie vor sehr stark.
Die Biden-Regierung bekräftigt immer die Bedeutung der Hilfe für die Ukraine. Weshalb tut sie sich so schwer mit der raschen Lieferung von Abrams-Panzern, F-16-Jets, Streumunition oder ATACMS, den Raketen mit grösserer Reichweite?
Das frustriert alle, die überzeugt sind, wir sollten noch mehr machen, um die Ukraine zu unterstützen. Der Präsident hat einen wirklich guten Job gemacht, eine politische Allianz gegen Russland auf die Beine zu stellen. Warum sagt er nicht offen: Wir wollen, dass die Ukrainer diesen Krieg gewinnen!
Was heisst das konkret?
Dass die Grenzen von 1991 wiederhergestellt werden. Warum möchte dies Biden nicht offen aussprechen? Ich kann nur spekulieren, aber ich denke, er will auf jeden Fall einen Atomkrieg verhindern. Putin droht jede Woche mit einem nuklearen Albtraum. Ich denke nicht, dass er tatsächlich Atomwaffen einsetzen würde. Sie sind eigentlich nur nützlich, wenn man sie nicht einsetzt. Ich hingegen bin überzeugt, dass wir ein klares Kriegsziel definieren müssen. Wir waren 20 Jahre lang in Afghanistan und haben nur im ersten Jahr gewusst, was wir dort wollten.
Was sollte Biden Ihrer Meinung nach tun?
Er muss ein Kriegsziel definieren und nicht nach dem Motto handeln: Wir geben euch genug Waffen, dass ihr durchhalten könnt, aber nicht genug für einen entscheidenden Sieg. Ohne ein klares Ziel vor Augen kann man keine wirkungsvolle Strategie entwickeln. Deshalb verhalten wir uns so zögerlich, wenn es darum geht, Panzer, Jets oder Raketen zu liefern.
Wo sehen Sie die Gründe für diese Haltung?
Bei einem grundsätzlichen Missverständnis, was Russland betrifft. Oder einem veralteten Verständnis. Es gibt in Washington, aber auch in Berlin immer noch die Ansicht, die Russen würden missverstanden. Wir hätten sie in die Enge getrieben und sozusagen gezwungen, die Ukraine anzugreifen. Es gibt tatsächlich Leute, die glauben, der Westen sei schuld an Putins Überfall auf die Ukraine. Andere halten es für okay, dass die Welt in Einflusssphären der drei Supermächte USA, China und Russland aufgeteilt wird. Das ist ein Denken aus dem 18. Jahrhundert. Und schliesslich gibt es die Sorge, dass die Russische Föderation bei einem Sieg der Ukraine kollabieren und zu einem «Failed State» verkommen würde.
Sind Sie ein Freund eines «Regime Change», eines erzwungenen Regierungswechsels?
Keineswegs. Aber wir sollten uns darauf vorbereiten. Sollte es dazu kommen, dann dürfen wir auf keinen Fall Angst davor haben. Seien wir uns bewusst: Wir haben die Chance, die Sicherheit Europas, ja der gesamten Welt, auf Generationen hinaus festzulegen. Deshalb müssen wir den Krieg in der Ukraine auch als eine Chance betrachten und nicht jammern: Oh mein Gott, was sollen wir tun?
Sie betonen in Interviews immer wieder die Bedeutung der Krim. Weshalb ist diese Halbinsel so wichtig?
Wenn wir die ukrainische Schwarzmeer-Küste betrachten, sehen wir fünf bedeutende Häfen: Odessa, Mykolajiw, Cherson, Berdjansk und Mariupol. Über diese Häfen werden Getreide und Seltene Erden exportiert. Sie sind für die Wirtschaft extrem wichtig. Als Russland die Kertsch-Brücke zwischen der Krim und dem Festland gebaut hat, wurde die Ukraine vom Asowschen Meer abgeschnitten. Damit sind Berdjansk und Mariupol unbrauchbar geworden und die anderen drei können von der Krim problemlos unter Artilleriebeschuss genommen werden. Ohne diese fünf Häfen ist die Ukraine jedoch nicht attraktiv für Investoren. Ohne die Krim kann die Wirtschaft der Ukraine nach dem Krieg nicht in Gang kommen.
Gleichzeitig ist eine russisch kontrollierte Krim eine permanente militärische Bedrohung.
Richtig. Deshalb kann die Ukraine niemals zulassen, dass die Krim in russischen Händen bleibt. Dank sehr kreativer Aktionen der ukrainischen Streitkräfte können die Russen derzeit die Häfen nicht mehr vollständig isolieren und Getreidelieferungen blockieren.
Die Krim zurückzuerobern, ist ein erklärtes Ziel der Ukraine. Bisher stockt jedoch die Gegenoffensive. Wie beurteilen sie die aktuelle Lage auf den Schlachtfeldern?
Ich bin bekanntermassen zu optimistisch bezüglich dessen, was die Ukrainer erreichen können. Ich habe mir auch mehr Unterstützung aus dem Westen erhofft. Die Gegenoffensive muss jedoch aus mehreren Blickwinkeln betrachtet werden. Sie findet auf dem Boden, in der Luft, zur See, im Weltraum und im Cyberspace statt. Um die Krim zu befreien, muss man sie zunächst isolieren. Deshalb die Angriffe auf die Kertsch-Brücke. Gleichzeitig tun die Ukrainer alles, um die Krim für die russischen See- und Luftstreitkräfte unbrauchbar zu machen.
Das ist ihnen in den letzten Wochen teilweise gelungen.
Ja, sie haben wichtige Radarstationen zerstört, ebenso das Trockendock im Hafen von Sewastopol und das Hauptquartier der russischen Schwarzmeer-Flotte auf der Krim. Deshalb haben die Russen ihre Flotte zurückgezogen. Zudem haben sie bei Cherson den Dnipro überschritten und in Saporischschja kleine Fortschritte erzielt. Sollte es ihnen gelingen, nach Tokmak vorzustossen, wären sie dem Ziel, die Krim zu isolieren, ein gutes Stück näher gekommen.
Andernorts jedoch kommen die Ukrainer nicht voran. In Awdijiwka greifen die Russen sogar an.
Das ist strategisch bedeutend weniger wichtig. Die Russen haben unter grossen Verlusten Bachmut zurückerobert. So what?
Hohe US-Militärs haben im Sommer ihre Kollegen in der Ukraine kritisiert und ihnen vorgeworfen, sie würden ihre Kräfte verzetteln. Teilen Sie diese Kritik?
Überhaupt nicht. Ich halte sie sogar für verwerflich, weil wir den Ukrainern nicht geben, was sie dringend brauchen, und keine amerikanischen Soldaten in den Kampf schicken. Und was Bachmut betrifft: Natürlich musste Präsident Selenskyj die Stadt verteidigen. Wir wissen mittlerweile, was mit den Menschen in den Städten geschieht, die in russische Hände fallen. Zudem werden in dieser Region lokale Truppen eingesetzt, die nicht über das modernste Material verfügen. Im militärischen Jargon nennt man das «Economy of Force».
Wenn es so wichtig ist, die Krim zu befreien, weshalb schicken die Deutschen den Ukrainern nicht die Taurus, die sehr wirkungsvollen Kurzstreckenraketen?
Hätten die Ukrainer die Taurus, eine äusserst wirkungsvolle Waffe mit einer Reichweite von 500 Kilometern, wäre ihnen tatsächlich sehr geholfen. Ich finde keine Worte mehr, weshalb die Deutschen sie nicht liefern.
Haben Sie eine spekulative Erklärung?
Ich kann mir vorstellen, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz grosse Sorgen macht wegen eines möglichen Rückzugs der Amerikaner aus der NATO, wenn Donald Trump noch einmal gewählt würde. Anders als Frankreich und Grossbritannien verfügt Deutschland über keine Atomwaffen. Ich vermute daher, dass Scholz deshalb alles vermeidet, was danach aussieht, dass sich Deutschland direkt in den Krieg einmischt. Ohne den atomaren Schutz der Amerikaner wäre er den Russen ausgeliefert.
Können Sie die Sorge des Kanzlers nachvollziehen?
Ich halte sie für einen grossen Fehler und verstehe die Appeasement-Politik der Deutschen nicht. Hinterfragen muss man auch die Schuld der Deutschen am Tod von Millionen Russen im Zweiten Weltkrieg. In erster Linie haben sie Ukrainer und Weissrussen umgebracht.
Sollte man die Ukraine wenigstens rasch in die NATO aufnehmen?
Ich hoffe, es geht in diese Richtung. Doch es sind die Amerikaner, die sich zögerlich verhalten. Sie waren am letzten NATO-Gipfel in Vilnius die grössten Bremser.
Weshalb?
Zu viele massgebende Stimmen in der Biden-Regierung sind offenbar überzeugt, dass dies zu viel für die Russen wäre und zu einer Eskalation führen könnte. Ich teile diese Einschätzung, wie gesagt, nicht. Sie hat sich in der Vergangenheit als falsch erwiesen, sei es beim Einmarsch der russischen Truppen in Georgien oder bei der Besetzung der Krim. Die gleichen Leute waren in der Regierung Obama auf die Bremse gestanden, als der syrische Präsident Baschar Assad Giftgas gegen sein eigenes Volk eingesetzt hatte.
Ein berühmtes Zitat von Winston Churchill lautet: «Die Amerikaner tun stets das Richtige, nachdem sie zuvor alle anderen Optionen ausprobiert haben.» Trifft dies auch heute zu? Sind die USA immer noch die «unverzichtbare Nation»?
Ich hoffe es. Unsere Zukunft und unser Wohlstand hängen davon ab. Sollte sich Putin durchsetzen, dann wird er weitermachen. Dann werden alle derzeit «eingefrorenen» Konflikte wieder aufbrechen, ob in Polen oder in den baltischen Staaten. Die Menschen dort kennen die Geschichte, und sie wissen, was sie erwarten würde.
Welche Rolle sollen die USA nun im Nahen Osten spielen?
Mit Israel verbindet die USA eine lange und tiefe Freundschaft. Deshalb haben wir sofort Hilfe zugesagt. Doch man spürt auch, dass sich die Stimmung verändert. Das hängt mit der Verantwortung gegenüber der palästinensischen Bevölkerung zusammen.
Israels Premierminister Netanjahu hat sehr viel Geschirr zerschlagen.
Er steht auch unter Druck der eigenen Bevölkerung. Eine Mehrheit will, dass er zurücktritt. Die krasse Fehleinschätzung vor dem 7. Oktober ist für die meisten Israelis unverständlich und unverzeihlich. Jetzt droht ein Mehrfronten-Krieg mit Hamas, Hisbollah und Iran. Die USA drängen die Israelis daher, sich an internationales Recht zu halten, auch wenn die Hamas Raketen aus Spitälern und Kindergärten abfeuert. Hinzu kommt die ungelöste Frage der illegalen Siedlungen in der Westbank und der Streit innerhalb Israels.
Macht es Sinn, in dieser Situation immer noch die Zweistaaten-Lösung zu postulieren, wie dies Biden tut?
Netanjahu will das nicht, die Hamas will das nicht. Daher braucht es eine externe Lösung, vielleicht sogar eine internationale Friedenstruppe, bis eine tragfähige Regierung für den Gazastreifen gebildet werden kann. Die palästinensische Autonomiebehörde scheint nicht glaubwürdig genug zu sein. Und Israel kann man die Verantwortung nicht übertragen.
Sie befürworten einen eigenen Staat für die Palästinenser?
Ja. Wenn Netanjahu die Hamas zerstören will, fordert er Unmögliches. Wir haben jahrelang Kämpfer von Taliban, Al Kaida und IS getötet – und es gibt sie immer noch. Sicherlich müssen die Israelis die Führung der Hamas beseitigen und ihre Infrastruktur zerstören. Wenn jedoch die Menschen im Gazastreifen keine Hoffnung haben, werden sie weiterhin die Hamas unterstützen. Und von Ländern wie dem Iran unterstützt werden. Iran und Russland profitieren letztlich vom Chaos im Nahen Osten. Deshalb müssen die USA und Europa zusammen mit den arabischen Staaten eine Lösung finden, welche die Anliegen der Palästinenser berücksichtigt, und die man möglicherweise Israel aufzwingen muss.
Glauben Sie, dass die Chinesen die jetzige Situation ausnützen und Taiwan angreifen werden?
Die Chinesen beobachten sehr genau, ob die USA in der Lage sind, gleichzeitig der Ukraine und Israel zu helfen, und sie trotzdem davon abhalten können, Taiwan anzugreifen. Wir haben diese Möglichkeit, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich.
Haben die USA auch den politischen Willen?
Das ist die grosse Frage. Glücklicherweise haben die Chinesen derzeit ihre eigenen, vor allem wirtschaftlichen Probleme. Und ich habe Zweifel, ob die chinesische Marine bereits in der Lage ist, es mit der amerikanischen aufzunehmen. Hinzu kommt, dass wir militärische Bündnisse mit Australien, Japan, Südkorea, ja selbst mit Indien eingegangen sind. Kurz: Aus all diesen Gründen glaube ich nicht, dass China derzeit in der Lage ist, Taiwan anzugreifen. Aber wenn wir es mit der freien Schifffahrt im Südchinesischen Meer ernst meinen, müssen wir zeigen, dass wir es auch im Schwarzen Meer ernst meinen.
Und das Wichtigste: Donald darf auf keinen Fall 2024 die Wahl zum Präsidenten der USA gewinnen.