Seit mehr als einem Jahr prophezeit eine Mehrzahl der Ökonomen eine Rezession. Medien wie Fox News pushen die Inflationsgefahr bis zur Verblödung und malen die wirtschaftliche Situation in düstersten Farben. Doch selbst die konservative Wirtschaftszeitung «Wall Street Journal» beschreibt den aktuellen Zustand der US-Wirtschaft wie folgt:
Von wegen Rezession: Im dritten Quartal des laufenden Jahres ist das amerikanische Bruttoinlandprodukt (BIP) um rund fünf Prozent gewachsen, eine Zahl, welche die Prognostiker selbst in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hätten. Nach wie vor werden Monat für Monat Wachstumszahlen von der Job-Front gemeldet, die deutlich über den Erwartungen liegen.
Dabei gibt sich die Notenbank, die Fed, alle Mühe, die Wirtschaft abzukühlen und hat seit März 2022 die Leitzinsen bereits elf Mal auf mittlerweile 5,5 Prozent erhöht. Vergeblich. Die US-Wirtschaft verhält sich wie ein Boxer, der Schläge klaglos einsteckt, unbeirrt weitermarschiert und dabei die Ökonomen alt aussehen lässt. «Wir müssen uns in Bescheidenheit üben», bekennt denn auch Kathy Bostjanic, Chefökonomin der Bausparkasse Nationwide, gegenüber der «Financial Times».
Selbst der Krieg in der Ukraine und die Ereignisse im Nahen Osten können die US-Wirtschaft nicht bremsen. Das Rekordwachstum im dritten Quartal lässt sich zwar nicht aufrechterhalten, doch es gilt inzwischen als sehr unwahrscheinlich, dass ein baldiger Absturz droht. Sie sehe «keine Anzeichen für eine Rezession», erklärte Finanzministerin Janet Yellen kürzlich. Auch Fed-Präsident Jay Powell stellt ein «soft landing» in Aussicht, ein gewünschtes und geregeltes Abkühlen des BIP-Wachstums und der Inflation.
Der Wirtschaftsplan von Joe Biden scheint aufzugehen, die «Bidenomics» funktionieren. Mit einem grosszügigen Ankurbelungsprogramm hat der Präsident einen Absturz in der Pandemie verhindert. Das hat zwar zu einer Inflation geführt, die höher und hartnäckiger als erwartet ausgefallen ist. Doch inzwischen geht die Rechnung auf. Die Löhne steigen jetzt stärker als die Teuerung, in Zahlen ausgedrückt: Die durchschnittliche Lohnerhöhung beträgt derzeit 4,2 Prozent, die Inflation liegt bei 3,7 Prozent.
Bidens Green New Deal ist zwar bescheidener als geplant ausgefallen, doch er zeigt trotzdem Wirkung. In den USA werden nicht nur viele neue Jobs geschaffen, sie entstehen auch in der Industrie für Arbeiter ohne Hochschulabschluss und in Gegenden, die von der Deindustrialisierung besonders hart getroffen wurden. In der Wüste des «Rostgürtels» im Mittleren Westen, in Bundestaaten wie Ohio, Pennsylvania und Michigan, blüht neues Leben.
Auch was die Gewerkschaften betrifft, hat Biden gepokert und gewonnen. Als erster Präsident überhaupt hat er sich bei den Streikposten der United Auto Workers (UAW) blicken lassen. Nun entwickelt sich dieser Streik zu einem Erfolg für die Arbeiter. Mit Ford und Stellantis (vormals Chrysler, Fiat, Peugeot, Citroën und Opel) hat die UAW bereits einen provisorischen Deal ausgehandelt, ein weiterer mit GM dürfte folgen.
Die Gewerkschafter konnten dabei weit mehr durchsetzen, als sie ursprünglich wohl selbst geglaubt hätten. UAW-Präsident Shawn Fain jubelte denn auch: «Wir haben Ford erklärt, sie müssten blechen, und sie haben es getan. Wir haben Dinge erreicht, die niemand für möglich hielt.»
Der Erfolg für die Gewerkschaften ist auch ein Erfolg für Biden. Und dieser Erfolg dürfte sich auf andere Industrien ausweiten. In Hollywood beispielsweise haben die Drehbuchautoren bereits einen besseren Gesamtarbeitsvertrag erzwungen, ein Deal mit den Schauspielern zeichnet sich ab. Selbst traditionell gewerkschaftsfeindliche Unternehmen wie Starbucks, McDonald's und Amazon stehen zunehmend unter Druck, die Arbeitnehmer-Organisationen anzuerkennen.
Harley Shalken, emeritierter Professor der University of California, Berkley, erklärt gegenüber der «New York Times»: «Die Gewerkschaften sind sicher noch nicht so einflussreich wie vor 30 Jahren, aber sie sind im Begriff, ihre Macht wieder aufzubauen.»
Die Bidenomics werden den Charakter der amerikanischen Wirtschaft verändern. «Die Billig-Ära ist vorbei», schreibt die einflussreiche Wirtschaftsjournalistin Rana Foroohar in einem Gastkommentar in der «Washington Post». Will heissen: Die Zeit des billigen Geldes, der billigen Energie und der billigen Löhne neigt sich zu Ende.
Für die amerikanische Mittelschicht sind das Good News. «Das Ende der Billig-Ära stellt einen gewaltigen Wandel dar», so Foroohar. «Das bedeutet, dass künftig wieder Main Street und nicht Wall Street die Wirtschaft antreiben wird. Das wiederum wird die Volkswirtschaft ausgewogener und resilienter machen.»
Tretet einer Gewerkschaft oder einem Angestelltenverband bei!