Ronen Bar war verwirrt. Am 7. Oktober um 3 Uhr früh wurde der Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet über mysteriöse Aktivitäten der Hamas in Gaza informiert. Einen Reim darauf machen konnte er sich nicht. Anfangs ging der Shin Bet von einer militärischen Übung aus, später von einem begrenzten Angriff auf Israel.
Bar beorderte eine «Tequila-Team» genannte Antiterroreinheit in den Süden, verzichtete aber darauf, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu wecken. Kurz darauf begann das Inferno. Hamas-Terroristen durchbrachen die Sperranlagen und verübten ein Massaker mit mehr als 1400 Toten und 200 Verschleppten. Auf Widerstand stiessen sie kaum.
Die Episode wird in einer am Montag veröffentlichten Recherche der «New York Times» geschildert. Sie zeigt, wie krass Israel die Bedrohung durch die radikalislamische Hamas unterschätzt hatte, und das nicht erst am 7. Oktober, sondern jahrelang.
Der Grund seien «Arroganz und Fehleinschätzungen» gewesen, so die «New York Times».
Netanjahu und der Sicherheitsapparat hätten Iran und die Hisbollah im Libanon als grössere Bedrohung eingestuft. Die Hamas glaubte man im Griff zu haben. Israels militärische und technologische Überlegenheit würde die Terrororganisation abschrecken, war man überzeugt. Folglich wurden Ressourcen von der Südgrenze abgezogen.
Eine Einheit, die Funkgeräte der Hamas abgehört hatte, stellte ihre Aktivitäten vor einem Jahr ein. Der Aufwand stehe in keinem Verhältnis zum Ertrag, war die Begründung. Nach dem Ende der Kämpfe fanden israelische Soldaten bei toten Hamas-Angreifern genau solche Funkgeräte, deren Abhörung als Zeitverschwendung betrachtet wurde.
Heute geht man davon aus, dass sich die Hamas während mindestens eines Jahres auf den Grossangriff vorbereitet hatte. Soldatinnen und Soldaten, die den Gazastreifen überwachten, warnten ihre Vorgesetzten, wurden jedoch ignoriert. Auch die US-Geheimdienste beendeten ihre Spionage gegen die Hamas im Glauben, Israel könnte mit dem Problem umgehen.
Dabei waren die Chefs der Streitkräfte durchaus beunruhigt, denn die von der ultrarechten Regierung Netanjahus angestossene Justizreform hatte die Gesellschaft tief gespalten. Die Feinde des jüdischen Staates könnten dieses Zeichen von Schwäche ausnutzen und einen Angriff starten, hiess es in einer Analyse des militärischen Nachrichtendienstes.
Dessen Leiter Aharon Haliva wollte gemäss der «New York Times» die Knesset, das israelische Parlament, am 24. Juli darüber informieren. Genau zwei Abgeordnete wollten ihn anhören. Am selben Tag versuchte Generalstabschef Herzi Halevi persönlich sein Glück bei Regierungschef Netanjahu. Doch der soll sich geweigert haben, ihn zu empfangen.
Von einer Grossoperation der Hamas aber ging man weiterhin nicht aus. Mehr noch: Netanjahu soll jahrelang die radikalen Islamisten instrumentalisiert haben, um die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen und einen Separatfrieden zu verhindern, schreibt die «New York Times» unter Berufung auf ehemalige Regierungsbeamte.
Ein namentlich nicht genannter Mitarbeiter des Regierungschefs bestritt gegenüber der Zeitung diese Version. Doch die Indizien sind erdrückend. Als die NYT von Netanjahu eine Stellungnahme zu ihrer Recherche verlangte, reagierte dieser mit einem Statement auf X, in dem er die Schuld am Hamas-Terror auf das Militär und die Geheimdienste abwälzte.
Dies hatte eine heftige Reaktion von Benny Gantz zur Folge, der Netanjahus Kriegskabinett angehört. Der ehemalige Generalstabschef erinnerte den Premier daran, dass «Führung mit Verantwortung» verbunden sei. Worauf Netanjahu den Post löschte und sich entschuldigte. Seine Mitverantwortung für das Totalversagen aber hat er bis heute nicht eingestanden.
«Bibis Botschaft an die Israelis war, dass Iran die wahre Bedrohung sei», sagte Bruce Riedel, ein ehemaliger Nahostexperte bei der CIA, im Gespräch mit der «New York Times». Die Palästinafrage hingegen sei keine Bedrohung mehr für Israels Sicherheit: «Alle diese Annahmen wurden am 7. Oktober zerschmettert», so Riedels Fazit.
Israel war demnach der festen Überzeugung, dass die rund 60 Kilometer lange «Barriere», deren Bau 2021 abgeschlossen worden war, den Gazastreifen hermetisch abriegeln würde. Dazu beitragen werde ein Überwachungssystem aus Kameras, Sensoren und ferngelenkten Schusswaffen, weshalb man die Zahl der Soldaten reduzieren könne.
Die Hamas aber hatte sich minutiös vorbereitet. Sie setzte Explosivdrohnen ein, um die Überwachungsanlagen zu zerstören, und das synchron. «Alle unsere Bildschirme schalteten sich praktisch in der gleichen Sekunde ab», berichteten überlebende Soldaten gegenüber Ermittlern. Israel war zum Zeitpunkt des Angriffs fast vollständig «blind».
Gleichzeitig attackierten Hamas-Zellen die Grenzbefestigung an zahlreichen Orten. «Überall drangen Schwärme von Terroristen ein», sagte ein Soldat gegenüber einer israelischen Website. «Die Streitkräfte hatten keine Zeit, um zu reagieren und den Überfall zu stoppen. Unsere einzige Option war, zu flüchten und unser Leben zu retten.»
Am Ende stand eine Blutspur des Terrors, zu der es ohne das Versagen von Politik, Militär und Geheimdiensten nie gekommen wäre. Das zeigt die «New York Times»-Recherche, die auf Interviews und Regierungsunterlagen basiert. Die Folge sind eine traumatisierte Nation und ein Krieg in Gaza, mit katastrophalen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.
Jedoch hoffe ich schwer, dass nach der Beendigung des momentanen Konflikts eine Phase der Aufarbeitung folgt, in der einfach mal alles auf den Tisch kommt und etwaigen Versagen ausgeleuchtet werden, damit so etwas nie wieder passieren kann..!