Sie sind die personifizierte Antithese zu Freiheit – die Sittenpolizisten und -polizistinnen der Islamischen Republik Iran. Ihre Aufgabe: Kontrollieren, dass Frauen ihre Haare bedecken, dass nicht in der Öffentlichkeit getanzt und gesungen wird oder dass Männer keine «zu westlichen» Haarschnitte tragen.
Was ist dran an den Gerüchten, die Sittenpolizei werde aufgelöst?
Die Sittenpolizei sehe sich selbst als Organ, «das Recht aufrechterhält und das Unrecht verbietet», sagt Pardis Mahdavi, eine Soziologin, die unter anderem zur Sexualität in Iran forscht, dem «Time»-Magazin.
Am vergangenen Samstag erklärte der iranische Generalstaatsanwalt, Mohammad Jafar Montazeri, auf eine Journalistenfrage, dass die Sittenpolizei nicht unter der Aufsicht der Judikative stehe. Tatsächlich untersteht die Gasht-e-Ershad seit ihrer Gründung direkt dem Obersten Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei.
Der Generalstaatsanwalt sagte weiter, dass die Sittenpolizei gerade aufgelöst werde, das interpretierten zumindest westlichen Medien so:
Zudem werde das Hidschab-Gesetz derzeit überarbeitet, so Montazeri.
Jedoch wurde bis Montag, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes, weder von der iranischen nationalen Nachrichtenagentur noch von den Behörden eine offizielle Erklärung zur Auflösung der Patrouille oder der Gesetzesänderung zum Hidschab abgegeben. Im Gegenteil: Die iranischen Staatsmedien wiesen die Behauptung zurück, die Sittenpolizei des Landes werde aufgelöst, so CNN am Sonntag.
Der staatliche Fernsehsender Al-Alam berichtete zudem, dass ausländische Medien die Äusserungen Montazeris als «Rückzug der Islamischen Republik aus der Frage des Hidschabs und der Sittsamkeit» darstellten, wie die BBC schreibt. Sie zitiert den iranischen Sender: «Aber kein Beamter der Islamischen Republik Iran hat gesagt, dass die Sittenpolizei geschlossen worden ist.»
Auf Nachfrage habe der iranische Aussenminister die Gerüchte um die Abschaffung der Sittenpolizei weder bestätigt noch dementiert, so BBC. Er habe lediglich gesagt, dass es in Sachen Demokratie und Freiheit vorangehe.
Die Sittenpolizei überprüft(e) unter anderem, dass kein Alkohol konsumiert wird, dass Männer keine «zu westlichen» Haarschnitte tragen oder dass Teilnehmende an geschlechterdurchmischten Versammlungen auch wirklich miteinander verwandt sind.
Ein besonderer Fokus der Sittenpolizei liegt auf den strengen Kleidervorschriften, die seit kurz nach der islamischen Revolution von 1979 für Frauen verbindlich sind. Dazu gehört, dass ein Hidschab getragen wird, dass die Kleidung nicht zu eng ist oder dass die Ärmel nicht hochgekrempelt sind.
Sollte jemand aufgestöbert werden, der gegen die Gesetze verstösst, dann werden die Delinquenten in ein Zentrum gebracht, wo sie belehrt werden (oder, im Fall von Verstössen gegen die Kleiderregeln, bis ihnen gesetzeskonforme Kleidung gebracht wird).
Die kurze Antwort ist: wohl nicht.
Die Regierung des Iran betrachtet besonders die Kleidervorschriften als einen zentralen politischen Grundpfeiler. Mit ihnen soll nach aussen visuell unterstrichen werden, dass es sich beim Iran um einen islamischen Staat handelt. Wird das Kopftuch nicht mehr getragen, untergräbt das offensichtlich die religiös-konservativen Werte, auf die sich das Regime stützt. Würde die Kopftuchpflicht für Frauen fallen, wäre dies also ein herber Riss im Selbstverständnis der Islamischen Republik.
Selbst wenn die Sittenpolizei aufgelöst wird, würde dies nicht bedeuten, dass gleichzeitig auch das jahrzehntealte Gesetz geändert würde. Zudem ist die Sittenpolizei nicht das erste Kontrollorgan, das die Einhaltung von angeblichen religiösen Vorschriften überprüft – eine Nachfolge-Organisation wäre also denkbar.
Allerdings hätte die Auflösung der Gasht-e-Ershad eine gesellschaftliche Bedeutung. Hadi Ghaemi, Geschäftsführer des in New York ansässigen Center for Human Rights in Iran, erklärt dem «Time»-Magazin, dass die Sittenpolizei nichts mit Moral oder Polizeiarbeit zu tun habe. Die Sicherheitskräfte hätten schlicht die Aufgabe, «Frauen zu belästigen» und «Macht zu demonstrieren». Wenigstens diese Schikane könnte ein Ende haben, wenn die Sittenpolizei tatsächlich aufgelöst werden sollte.
Das Auslegen der Kleidervorschriften war bereits in der Vergangenheit ein stetiges Aushandeln zwischen Bevölkerung und Überwachungsorgan. Viele iranische Frauen haben in ihrem Alltag immer wieder die Grenzen überschritten und sich an Aktionen des subtilen Widerstands gegen die Sittenpolizei und die frauenverachtenden Gesetze beteiligt. So trugen sie ihren Hidschab weit nach hinten geschoben, kleideten sich figurbetont unter offenen Mänteln oder schminkten sich knallrote Lippen.
Manche Proteste waren jedoch weitaus riskanter als dieses stumme Seilziehen um das Gewohnheitsrecht: Im Jahr 2017 rief die iranische Aktivistin Masih Alinejad die Bewegung White Wednesdays ins Leben, bei der Frauen ihre Kopftücher ablegten und weisse Kleidung trugen. Alinejad wurde inzwischen zwar aus dem Iran verbannt, gilt aber weiterhin als eine der lautesten Regime-Kritikerinnen. Sie traut der angeblichen Auflösung der Sittenpolizei nicht über den Weg. Auf Twitter schreibt sie:
To international media:
— Masih Alinejad 🏳️ (@AlinejadMasih) December 4, 2022
1) abolishing morality police in Iran is disinformation but it shows the fear of the regime.
2) Regime’s empty promises are a sign of desperation that the uprising continues
3) People are united in their demand for an end to Islamic Republic#MahsaAmini
Und 2016 entwickelte eine Gruppe von Iranern eine mobile App namens Gershad, die mithilfe von Daten aus der Bevölkerung helfen soll, die von der Sittenpolizei besetzten Kontrollpunkte zu umgehen.
Und am 27. Dezember 2017 stellte sich Vida Movahed unverschleiert auf einen Stromverteilerkasten an der stark frequentierten Enghelab-Strasse in der iranischen Hauptstadt Teheran. Eine Stunde lang hielt sie stumm ihr Kopftuch in die Höhe. Ihr Bild verbreitete sich rasend schnell im Netz und markiert den Anfang einer seit da nicht mehr abreissen wollenden feministischen Welle, die in den aktuellen Protesten ihren vorläufigen Höhepunkt findet.
Sollte sich bestätigen, dass die Sittenpolizei tatsächlich abgeschafft wurde und sollte der Kopftuchzwang tatsächlich fallen, wäre dies ein Zugeständnis an die Protestbewegung. Gleichzeitig reduzierte die Regierung die Proteste symbolisch auf die Kopftuchfrage. Aber die Menschen in Iran fordern längst mehr, als ihre Haare offen zu tragen: Sie wollen das Ende der Mullah-Regierung. Eine Demonstrantin sagte gegenüber der BBC:
Eine andere sagt:
Darum würde dieser Schritt wohl sowieso nicht ausreichen, um die Proteste zu beenden.
Vielleicht gibt es ja doch noch einen Ruck/ Volkssturm, der das Ende besiegelt.