«Sie haben uns bedroht, geschlagen und mundtot gemacht» – Iranerinnen, die in der Schweiz Zuflucht gesucht haben, erzählen während des Protestes auf der Zürcher Rathausbrücke auf dem Podium von ihren Erfahrungen mit der islamischen Sittenpolizei. Ihre Zeit der Angst, des Schweigens sei vorbei. Sie erheben ihre Stimme, berichten von den Missständen, der Unterdrückung des Mullah-Regimes.
Zwischendurch erklingt die persische Version des italienischen Partisanen-Songs «Bella ciao». Ein Lied des Protestes, des Widerstands. Ein Lied, dessen Melodie von Frauen stammen soll, die Anfangs des 20. Jahrhunderts als Reispflückerinnen unmenschliche Arbeit errichten mussten. Ein Lied über die Hoffnung auf Freiheit.
Unter den Protestierenden befindet sich die gebürtige Iranerin Banoo*. Keinen Iran-Protest hat sie bisher verpasst. Ihre sechs Monate alte Tochter, die sie mit einem Tuch um den Oberkörper gewickelt hat, nimmt sie immer mit. Eines Tages will Banoo ihrer Tochter ihre Heimat zeigen – den wahren Iran, ohne Mullah-Regime.
Laut ruft sie die Protestrufe: «Frau, Leben, Freiheit.»
Freiheit kennt die 36-Jährige erst, seit sie vor fünf Jahren in die Schweiz zog. Davor war ihr Alltag bestimmt von massiver Unterdrückung. Frauen sind im Iran durch das angewandte Rechtssystem, die Scharia, in vielen Bereichen stark benachteiligt. Das Regime lehnt eine Gleichstellung von Mann und Frau kategorisch ab.
Die Wut über diese Ungerechtigkeit entlädt sich seit Monaten von Beirut bis Berlin. Im Iran haben sich die Proteste zu einem landesweiten Aufstand gegen die islamische Diktatur herangewachsen. Auslöser war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei verhaftet wurde, weil sie ihren Hidschāb angeblich nicht korrekt genug trug. Während der Inhaftierung verstarb die junge Frau. Die genauen Umstände ihres Todes sind unklar.
Die Behörden sprachen erst von einem Herzversagen, danach von einem Hirnschlag. Augenzeugen, darunter ihr Bruder, berichteten von massiver Polizeigewalt. Für die Familie des Opfers lässt das die Schlussfolgerung zu: Amini wurde zu Tode geprügelt.
Die Aufstände lassen Banoo kaum noch schlafen. Nachts scrollt sie durch Medienberichte und Social-Media-Feeds. Doch die Informationsbeschaffung gestaltet sich schwierig. Kritische Stimmen werden zum Schweigen gebracht. Auch der Austausch mit ihrer Familie ist erschwert, da die Mullahs das Internet einschränken, um Unruhen kleinzuhalten.
Banoo sieht es als ihre Pflicht, jenen etwas zurückzugeben, die ihr Leben riskieren, um gegen das autoritäre Regime zu protestieren. «Die Welt muss erfahren, was im Iran vor sich geht.»
Sie betont, dass es bei den Protesten nicht um Religion oder ums Kopftuch ginge. Banoo holt tief Luft und sagt: «Was das Mullah-Regime mit uns Frauen macht, tun die nicht einmal Tieren an.»
Vor der Kundgebung treffe ich die junge Mutter in einem Kaffee. Sie spricht fliessend Deutsch, ohne je einen Sprachkurs besucht zu haben. Ziemlich schnell teilt sie mir mit, dass sie bei unserem Gespräch vermutlich weinen werde. «Auch wenn es mir schwerfällt, über die Zeit im Iran zu sprechen, es ist das Wenigste, das ich tun kann», so Banoo.
Ich war neun Jahre alt, als mein Vater starb. Sein Tod stellte das Leben meiner Mutter auf den Kopf. Sie musste sich alleine um mich und meinen grösseren Bruder kümmern. Finanzielle Unterstützung erhielt meine Mutter nicht. Seit ich auf der Welt bin, arbeitet sie. Trotzdem war das Geld knapp. Um etwas zu sparen, wollte sie in eine kleinere Wohnung ziehen.
Doch die Suche erwies sich als Herkulesaufgabe. Niemand wollte einer alleinstehenden Frau eine Wohnung vermieten. Man muss wissen, Männer stehen unter dem iranischen Regime über allem. Deshalb denken viele Männer, dass Frauen ohne Männer nichts auf die Reihe kriegen.
Dennoch kämpfte sich meine Mutter – ohne Mann an ihrer Seite – durchs Leben.
Banoo sieht in ihrer Mutter ein Vorbild. Durch sie habe sie gelernt, zu kämpfen. Kämpfen bedeutete für sie damals nicht, an Protesten teilzunehmen, sondern sich zu widersetzen, wenn Männer versuchten, ihre Macht auszuspielen. «Wenn man sich als Frau fürchtet, seine Stimme gegen die Männer zu erheben, dann passieren schreckliche Dinge», so Banoo.
Es ist eine Anspielung auf einen Vorfall, der sich an ihrer Uni abspielte.
Nach der Schule habe ich begonnen, Architektur zu studieren. In der Universität wurden wir am Eingang mittels eines Überwachungssystems kontrolliert, ob wir uns so kleideten, wie es das Regime vorschreibt. Wir mussten lange, dunkle Mäntel und ein Kopftuch tragen, obwohl an der Uni nur Frauen studieren durften. Schminke war verboten.
Einmal zerrten mich zwei Frauen in einen Raum, weil ich meine Fingernägel in einem hautfarbenen Ton lackiert hatte. Sie fragten mich, warum ich mich hübsch mache. Ich fragte, ob sich hier jemand deswegen gestört fühle.
Weil ich mich nicht sofort entschuldigte, musste ich meinen Ausweis abgeben und wurde zum Chef der Schulüberwachung geschickt.
Dieser fragte mich, ob es mir gefällt, wenn ich mich hübsch mache. Ich sagte, ich sei gerne gepflegt. Dann sagte er, dass er es besser fände, wenn ich mich nur für ihn zuhause schön mache. Der Mann war verheiratet. Ich muss hier kurz anmerken, dass Männer in Iran gesetzlich mehrere Frauen heiraten dürfen.
Ich lehnte ab. Dann drohte er mir mit dem Rauswurf aus der Uni.
Diese Konsequenzen nahm Banoo in Kauf, obwohl das Studium ihr am Herzen lag. Sie verliess das Schulgebäude und befürchtete die baldige Entlassung. Doch das Schicksal meinte es gut mit ihr.
Einige Tage nach diesem Vorfall erfuhr ich, dass dieser Mann entlassen wurde. Er soll auch andere Studentinnen bedroht haben. Viele hätten sich aus Angst aber nicht getraut, sich ihm zu widersetzen. An jenem Tag ist er erwischt worden, wie er in seinem Büro eine Studentin sexuell missbrauchte.
Es würde nicht der einzige Zwischenfall in Banoos Leben bleiben.
Noch während der Studienzeit ereignete sich ein weiterer Zwischenfall. Der Schock dieses Tages sitzt bei Banoo noch immer tief. «Immer wenn ich mich daran erinnere, muss ich weinen».
Ich wartete auf der Strasse auf ein Taxi. Ich war konform gekleidet. Im Iran müssen wir unsere Haare verdecken und einen Mantel tragen, der alles bis auf unsere Hände und Füsse verdeckt. Zudem sollten wir vorzugsweise schwarze Kleidung tragen, um nicht aufzufallen. Trotzdem wurde ich von der Sittenpolizei angehalten. Die Einheiten kontrollieren, ob sich die Frauen an die Kleidervorschriften halten. Alle Körperteile ausser Hände, Füsse und Gesicht müssen bedeckt sein. Enganliegende Kleidung ist verboten.
Die Polizisten steckten mich in einen kleinen Bus. Die Sittenpolizei war damals noch relativ neu – und nicht so gewaltsam wie heute.
Im Bus befanden sich bereits andere Frauen. Sie weinten.
Sie brachten uns zur Polizeiwache, wo wir wie Verbrecherinnen stehend mit einem Nummernschild in einem engen Raum warteten, bis unsere Nummern ausgerufen wurden. Danach wurden wir einzeln verhört.
Sie fragten mich, ob ich mich ausweisen könne. Ich sagte, dass ich keinen Ausweis dabei hätte – obwohl ich ihn in meiner Tasche hatte. Ich hatte Angst, dass ich einen Strafregistereintrag erhalte und dann nicht mehr studieren oder arbeiten kann.
Zum Glück haben sie meine Taschen nicht durchsucht.
Warum ich festgenommen wurde, weiss ich bis heute nicht. Vielleicht wollten sie mich einschüchtern, vielleicht war ihnen aber auch einfach meine pinke Tasche ein Dorn im Auge.
Jedenfalls sagten sie mir, dass mein Mantel zu wenig dick sei und ich ihn deshalb zerschneiden müsse. Aus Wut habe ich den Mantel in ganz kleine Stücke geschnitten. Danach wartete ich auf meine Mutter, die mir einen neuen Mantel bringen musste.
Ich suchte eine Toilette. Auf dem Weg dorthin haben mich drei Polizisten unsittlich berührt, als wäre es das normalste der Welt. Ich drehte wieder um. Ich hatte solche Angst, dass ein Polizist mir auf die Toilette folgt.
Als meine Mutter kam, liessen sie mich gehen. Danach fing ich an zu weinen. Mindestens zwei Stunden verbrachte ich in Polizeigewahrsam. Die Polizisten redeten mit mir, als wäre ich nichts.
Und genauso fühlte sie sich: wie nichts. Nicht nur an diesem einen Tag – sondern tagtäglich.
Ich wurde in meinem Leben so oft gedemütigt. Beispielsweise musste ich bei meiner ersten Anstellung meinen Chef küssen, damit er mir den Lohn ausbezahlt. Ich muss betonen, dass bei weitem nicht alle Männer im Iran böse sind, aber viele sind durch das System krank im Kopf geworden.
Das Studium musste Banoo unterbrechen. Das Leben wurde im Iran wegen der steigenden Inflation immer teuer. Grund dafür sind die scharfen Sanktionen, unter denen das Land aufgrund seines Atomprogramms seit Jahren ächzt. Viele Menschen sind trotz guter Ausbildung arbeitslos.
Banoo jobbte während ihres Studiums, doch das Geld reichte nicht bis zum Abschluss. Sie suchte sich eine Vollzeitstelle.
Es würde ihr letztes Kapitel im Iran sein.
Ich begann in einer Lebensmittelfabrik zu arbeiten. Dort verliebte ich mich in einen Mann. Wir waren etwa sechs Monate zusammen, bis ich herausfand, dass er eine Familie hat. Ich beendete die Beziehung, worauf er mich bedrohte und sexuell missbrauchte.
Ich liess einiges über mich ergehen, bis ich den Mut fasste, ihn anzuzeigen. Doch niemand unterstütze mich. Man schob mir die Schuld in die Schuhe. Er sei schliesslich ein verheirateter Mann.
Die Situation in ihrer Heimat setzte ihr zu. Sie träumte von einem Land, in dem nicht nur ein Geschlecht das Recht auf Selbstbestimmung hat. Durch einen Kontakt findet sie einen Weg, in die Schweiz zu kommen.
«Jetzt weiss ich, was Leben bedeutet», so Banoo. Sie muss sich nicht mehr verschleiern, kann anziehen, was sie möchte, ihre Nägel lackieren. Und sie kann Dinge tun, die sie sich davor nicht vorstellen konnte, wie etwa ihren Freund auf der Strasse küssen.
Bannos Tochter macht sich bemerkbar, als würde sie uns signalisieren wollen, dass der Protest bald anfängt. Gemeinsam schlendern wir zur Ratsbrücke. Banoo zeigt auf einen Polizeiwagen, der am Rande der Kundgebung Stellung hält. «Guck, diese Polizisten schauen, dass uns nichts passiert, dass wir demonstrieren können. Im Iran würden sie uns verprügeln und einsperren.»
*Name von der Redaktion geändert
Und das macht mich auch unendlich traurig: warum nur ist es auch heute, im Jahr 2022, noch immer ein Privileg, sich als Frau sicher und frei zu fühlen?
Hey, ihr Männer da draussen : ihr alle seid von einer Frau geboren worden...
Lasst uns unser Mitgefühl mit den Frauen im Iran ausdrücken und die mutigen Domonstrierenden unterstützen!