In Iran protestieren die Menschen seit einem Monat gegen die Regierung der Islamischen Republik. Die Frage steht im Raum: Befindet sich Iran am Anfang einer neuen Revolution?
Der Protestforscher Tareq Sydiq von der Philipps-Universität Marburg sagt gegenüber watson:
Er sagt aber auch:
«Wiederkehren» tun die Proteste in Iran tatsächlich seit Jahren. Und diesmal haben sie eine neue Dimension angenommen. Eine Einordnung:
Zurzeit ringen die Iranerinnen und Iraner um einen Wandel – und zwar unter Einsatz ihres Lebens. Sie machen ihrer Verzweiflung über die miserable wirtschaftliche Lage des Landes Luft und fordern mehr politische und persönliche Freiheit.
Die Islamische Republik Iran wurde 1979 gegründet. Und mit ihrer Gründung wurden im Land Gesetze und gesellschaftliche Werte installiert, die sich am Islam orientieren und das private und öffentliche Leben tiefgreifend veränderten. In den folgenden Jahren war Iran geprägt von einer rigorosen Kulturrevolution, einem Krieg und einem Wiederaufbau, Reformbemühungen und mehreren Protestwellen.
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das Regime in Iran nicht davor zurückschreckt, Proteste mit massivstem Gewalteinsatz zu unterdrücken und dabei das Auslöschen von Menschenleben in Kauf zu nehmen. Ob es dem Regime auch diesmal gelingen wird, die Proteste niederzuknüppeln, ist zurzeit unklar. Denn die Proteste heute seien ungleich grösser als diejenigen 2017 und 2019, so Sydiq.
Dennoch wurden auch im letzten Monat bereits mehrere Menschen in Iran umgebracht – darunter laut Amnesty International über 20 Kinder –, andere wurden verletzt, verschwanden unter dubiosen Umständen oder wurden inhaftiert.
These are some of the men, women & children killed by Iran's security forces because they dared to dream for a life with rights & freedoms. Inaction costs human lives. Pls sign our petition & urge world leaders to stop the bloodshed in Iran#مهسا_امینیhttps://t.co/F1ScjFzc3k pic.twitter.com/kibZctKxmt
— Amnesty Iran (@AmnestyIran) October 15, 2022
Dass Proteste so gewaltsam gestoppt würden, folge einer weltweit immer wieder beobachteten Strategie von Regimen. Dabei werde abgeschätzt, welches Mass an Gewalt eingesetzt werden müsse, damit die Protestierenden weder zurückkämen noch Folgeproteste provoziert würden, erklärt Sydiq.
Das sei auch der Grund, weshalb Regime bei Aufständen Repressalien normalerweise nicht stetig steigerten, sondern früh konzentrierte und punktuelle Gewalt ausübten. Denn so könnten Proteste effizient im Keim erstickt werden – genau wie bei den vorangegangenen Protestwellen in Iran geschehen.
Doch im Unterschied zu den vorangegangenen Protesten hätten die Menschen in Iran jetzt dazugelernt und bereiteten sich gezielt auf Gewalt durch das Regime vor, führt Sydiq aus. Die Iranerinnen und Iraner hätten zum Beispiel Strategien entwickelt, um zu verhindern, dass sie durch Polizeikräfte voneinander getrennt würden. Und Videos auf den sozialen Medien zeigen, wie es Protestierenden immer wieder gelingt, die Sicherheitskräfte zurückzudrängen.
«Wenn das Ziel sehr gross wird, wird die Angst bedeutungslos», beschreibt die Juristin und Iran-Kennerin Awin Tavakoli im SRF-«Club» vom 19. Oktober 2022 die Stimmung gegenüber der willkürlichen Gewalt im Land.
Das bedeute nicht, dass das Regime nicht doch noch in den nächsten Tagen oder Wochen beschliesse, mit noch massiveren und sehr gezielten Gewalteinsätzen die Proteste zu unterdrücken, ordnet Sydiq ein. Aber zurzeit sehe es eher danach aus, als ob das Regime versuche, die Proteste «in manchen Regionen auslaufen zu lassen» – aus Angst, sich zu verschätzen und durch erfolglose Repressionen noch mehr Wut hervorzurufen.
Und noch etwas ist diesmal anders: die Generation der Protestierenden. Eine Generation der Hoffnungslosen.
Von einer gewissen Hoffnung auf Reformen geprägt war die Generation, die die 1990er Jahre aktiv miterlebte. Bei der Generation der «Grünen Revolution» von 2009 habe diese Hoffnung zwar noch nachgeklungen, «aber bereits damals äusserte sich Enttäuschung», schätzt Sydiq. Und aktuell ist es die ganz junge Generation, die ihren Unmut kundtut. «Wir haben Schulkinder, die auf die Strasse gehen und sich das Kopftuch abnehmen», bemerkt Historiker Kijan Espahangizi im «Club».
In der SRF-Sendung «Sternstunde Religion» vom 16. Oktober 2022 sagt die Journalistin und Iran-Kennerin Natalie Amiri, dass davon auszugehen sei, dass viele der Protestierenden um die 15 Jahre alt seien.
Und deren hauptsächliche politische Erfahrung ist, dass das politische System und die politische Elite – die grösstenteils seit der Revolution 1979 an der Macht ist – keine Reformen zulassen. Und somit auch keinen graduellen Wandel, so Sydiq.
«Diese Generation ist entsprechend hoffnungslos», was wiederum zu radikaleren Forderungen führe, analysiert der Protestforscher Sydiq.
New video coming out of Iran showing young female students, without a hijab, chanting and running their director of education out of the school. pic.twitter.com/jvq4IqNJdy
— ShallyZomorodi (@shallyzomorodi) October 3, 2022
Während bei den vorangegangenen Aufständen in Iran systembasierte Missstände im Zentrum der Proteste standen, haben die Protestierenden heute keine spezifischen Forderungen an bestimmte Politiker. Ihr Slogan ist:
Das ist keine politische Forderung, wie das bei den vergangenen Protesten der Fall war. «Hier geht es darum, das Leben und die Freiheit zurückzugewinnen», sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze in der SRF-Sendung «Club».
Es geht nicht darum, gegen die Zensur zu protestieren wie 1999 oder gegen einen vermuteten Wahlbetrug wie 2009 oder wegen Subventionen für Benzin auf die Strasse zu gehen wie 2019. 2022 stellen die Menschen in Iran das System an sich infrage, formuliert Sydiq.
Diese neuen Ziele sind wohl auch der Grund für ein in Iran neues Phänomen: Die Menschen auf der Strasse sind heterogen. Solmaz Khorsand, Journalistin und Iran-Kennerin, sagt im SRF-«Club»:
Dazu kommt, dass der feministische Protest, der spätestens seit 2014 in der Öffentlichkeit sichtbar ist, laut und zentral mitschwingt. Denn die Unterdrückung der Frau und das Kopftuch als politisches Instrument stehen für tiefgreifende gesellschaftliche Probleme in Iran, die der Parole «Frau! Leben! Freiheit!» in allen Punkten widersprechen.
Women burning hijabs in Iran. The most necessary revolution for women's freedom in the 21st century. pic.twitter.com/MOAfTeZhfn
— taslima nasreen (@taslimanasreen) October 15, 2022
Durch diese vielschichtige und farbige Bewegung «sind die Protestierenden viel weniger kompromissbereit», sagt Sydiq. Das sei auch der Grund, weshalb man davon sprechen könne, «dass die Protestierenden gerade revolutionäre Ziele haben und revolutionäre Taktiken verfolgen».
Wie vielfältig die Kampftaktiken diesmal sind, umreisst Kijan Espahangizi im SRF-«Club»: «Die Proteste sind dezentral [...]. Wir haben Internet-Aktivismus, wir haben Strassenkampf. Wir haben Streiks in der Industrie.» Tavakoli ergänzt: «Nicht nur unterschiedliche Schichten, sondern auch unterschiedliche Expertisen arbeiten zusammen.» Schulze spricht von einer «neuen Revolutionskultur», die sich in Iran gerade entwickle.
Es sei verfrüht, Aussagen über den Ausgang dieses Protestes zu treffen. Man sehe aber, dass die Proteste in den letzten Jahren immer wiedergekehrt seien – auch wenn sie zuvor niedergeschlagen wurden, so Sydiq.
Eine grundlegende Veränderung oder sogar die nächste Revolution in Iran scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, denn «die Revolution hat sich in den Köpfen bereits vollzogen, das ist nicht mehr rückgängig zu machen», wie Espahangizi im «Club» formuliert.
Dass eine pragmatische Politik in Iran möglicherweise Reformen der Gesetze und religiös motivierten Werte duldet, war die Hoffnung während der Neunzigerjahre. Damals gab es unter den beiden Präsidenten, Ali Akbar Rafsandschani (1989–1997) und Mohamed Chatami (1997–2005), Lockerungen der bislang strengen Repression.
Doch gleichzeitig organisierten sich die konservativen Kräfte um den seit 1989 amtierenden «Obersten Führer» Sayyid Ali Chamenei und sabotierten die Reformbemühungen der Präsidenten. So scheiterte jedes dritte vom Parlament verabschiedete Gesetz unter Chatami am Veto des iranischen Verfassungsgerichts (des sogenannten «Wächterrats»), dessen Mitglieder zur Hälfte vom «Obersten Führer» eingesetzt werden.
Dieses Seilziehen der progressiven und der konservativen Kräfte im Land endete jäh im Jahr 1999: Damals gingen Ordnungskräfte brutal gegen Studierende vor, die für die Pressefreiheit demonstrierten. Daraufhin kam es landesweit zu Ausschreitungen, bei denen die Chamenei unterstellten Sicherheitskräfte grosse Brutalität gegen die Bevölkerung anwandten: Mindestens vier Menschen verloren ihr Leben – die blutigste Bilanz aller Proteste seit der Revolution.
Der damalige Präsident Chatami stellte sich nach kurzem Zögern hinter den «Obersten Führer» Chamenei und dessen Gewaltschergen, die das Volk niederknüppelten. So verpasste es Chatami trotz aller Reformversprechen – als vom Volk gewählter Präsident –, in die direkte Konfrontation mit Chamenei zu gehen.
Rare video of Iranian student protest. Today is the aniversary of Iranian Student Protests of July 1999 (Also known as 18th of Tir/Kuye Daneshgah Disaster (7–13 July) the most widespread and violent public protests to occur in Iran since the early years of the Iranian Revolution. pic.twitter.com/hL8sm67aYb
— mina bai (@bai_mina) July 8, 2020
Kurz vor Ende seiner zweiten Legislatur räumte Chatami 2004 das Scheitern seiner Reformpolitik ein. Er habe im Machtkampf mit Chamenei und dessen konservativen Verbündeten nachgeben müssen, um das islamische Staatssystem zu erhalten, wie er bei einer Ansprache an der Universität in Teheran eingestand. Bei den Parlamentswahlen 2004 erlangten die Konservativen die Mehrheit im Parlament wieder.
Trotzdem: Auch wenn es in den 90er Jahren keine tiefgreifenden Reformen gab, haben diese Jahre Lockerungen gebracht. Plötzlich schauten Haarsträhnen unter den Hijabs hervor und die Mäntel der Frauen wurden bunter. Die Stimmung war verhalten hoffnungsvoll.
Zehn Jahre später kam es zur bislang schwersten Legitimitätskrise des politischen Systems der Islamischen Republik: Präsident Mahmoud Ahmadinedschad wurde erdrutschartig als Präsident für eine zweite Amtszeit wiedergewählt – und Chamenei wurde offen vorgeworfen, die Wahlergebnisse gefälscht zu haben.
Die zehntausenden von Menschen, die sich nach den verdächtigen Wahlresultaten um die Demokratie betrogen fühlten, riefen:
Die Sicherheitskräfte unterdrückten die Proteste innerhalb von sechs Monaten gewaltsam: Zwischen Juni 2009 und Februar 2010 wurden mehr als 30 Demonstranten getötet, Oppositionelle wurden systematisch zum Schweigen gebracht. Die Regierung verurteilte die Proteste als vom Ausland gesteuert – getreu einer der Säulen der Islamischen Republik, dass Israel und die USA der Feind des Iran seien.
Am 27. Dezember 2017 stellte sich Vida Movahed unverschleiert auf einen Stromverteilerkasten an der stark frequentierten Enghelab-Strasse in der iranischen Hauptstadt Teheran. Eine Stunde lang hielt sie stumm ihr Kopftuch in die Höhe. Ihr Bild verbreitete sich rasend schnell im Netz und markiert den Anfang einer seit da nicht mehr abreissen wollenden feministischen Welle, die in den aktuellen Protesten ihren vorläufigen Höhepunkt findet.
Am 28. Dezember 2017 gingen Demonstranten auf die Strasse, um sich gegen die Wirtschaftspolitik des damaligen Präsidenten Hassan Rohani auszusprechen. Sie brüllten:
Die Proteste waren die intensivsten seit 2009 – während zwei Wochen brutalen Einschreitens seitens der Regierung wurden mindestens 22 Demonstranten getötet.
Im November 2019 entzündeten sich die Proteste erneut an gestiegenen Benzinpreisen. Das Regime setzte damals Tränengas, Wasserwerfer und scharfe Munition ein, um die Demonstranten auseinanderzutreiben. Das Internet wurde für fünf Tage fast vollständig abgeschaltet, um zu verhindern, dass sich Bilder der Proteste und des harten Vorgehens in den sozialen Medien verbreiten. Innerhalb weniger Wochen wurden laut Amnesty International mindestens 208 Demonstranten getötet.
2022 haben die Proteste in Iran eine neue Dimension angenommen: Die Menschen wollen ihr Leben zurück.