Momentan überschlagen sich die Ereignisse: Seit am Sonntag bekannt wurde, dass die drei Staatschefs aus Italien, Frankreich und Deutschland nach Kiew reisen sollen, kursieren Medienberichte über den genauen Tag, die Absichten des Besuchs und die Erwartungen der Ukrainer. Gleichzeitig dementieren die europäischen Regierungsvertreter, dass dieser Besuch stattfindet.
In Kiew nimmt man die Reise als gegebene Sache. Am Montagabend forderte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview die eindeutige Unterstützung durch Deutschland. «Was erwarten wir im Zusammenhang mit [Olaf Scholz'] Besuch? Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt», so Selenskyj gegenüber dem ZDF-«heute-journal». Deutschland dürfe keinen Spagat zwischen der Ukraine und den Beziehungen zu Russland versuchen. Darüber hinaus sei er zuversichtlich, dass die Ukraine der EU angehören kann und der Status als Beitrittskandidat bereits im Juni verliehen werde.
Ein Besuch Deutschlands würde also mit grossen Erwartungen seitens der Ukraine einhergehen. Was ist dran an der Visite und wie sehr kann man den zurzeit kursierenden Prognosen über ein Datum vertrauen?
Beginnen wir von vorn. Am Sonntag schrieb die deutsche Boulevardzeitung «Bild» von konkreten Reiseplänen aus französischen und ukrainischen Regierungskreisen, die ihren Informationen zufolge bestünden: Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wolle noch Ende Juni gemeinsam mit Frankreich-Präsident Emmanuel Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi nach Kiew reisen.
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Nachrichtenagenturen und namhafte Medienhäuser wie der «Spiegel», «Die Zeit» oder SRF übernahmen die Geschichte. Am Montag wagte sich die italienische Zeitung «La Stampa» gar vor mit den Zeilen: «Die Reise findet bald statt. Am 16. Juni.» Auch der deutsche «Business Insider» und der «Tagesspiegel» sprachen am Dienstag vom 16. als geplanten Ankunftstag. Andere Zeitungen waren vorsichtiger und schrieben relativierend, dass Genaueres zur Reise nicht bekannt sei.
Denn offiziell bestätigt wurde noch nichts. Der Élysée-Palast hat bislang sämtliche Informationen über eine Reise dementiert. Aus Berlin hiess es, man würde sich zu einer möglichen Reise nicht äussern. Es gebe «keinen neuen Stand», sagte ein Regierungssprecher.
Trotzdem ist in den Medien nicht mehr die Frage, ob, sondern wann die drei Staatschefs nach Kiew reisen. Der Besuch sei zum einen symbolischer Natur: Angeblich ist ein Foto mit den vier Herren in Kiew geplant, um so die Unterstützung der drei grössten Volkswirtschaften Europas zu zeigen. Das schrieben unterschiedliche deutsche Zeitungen übereinstimmend. Zum anderen erhoffe sich die Ukraine aus diplomatischer Sicht zwei Dinge: den Kandidatenstatus bei der EU sowie die langersehnte Waffenlieferung aus Deutschland.
Seit Kriegsausbruch hat die deutsche Bundesregierung der Ukraine Waffen und Rüstungsgüter im Wert von 350.1 Millionen Euro zugesichert. Die Lieferung verlaufe zögerlich und schwere Waffen wie Artilleriegeschütze und Flugabwehrpanzer seien bloss Versprechen geblieben, so die Kritik.
Dass sich die ukrainische Regierung durch einen Besuch mehr Verbindlichkeit erhofft, wie etwa eine sofortige Lieferung deutscher Panzer, ist also nachvollziehbar.
Doch warum dementieren die europäischen Regierungsvertreter den Besuch? Eine Vermutung dazu hat Matthias Dembinski, Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). «Angekündigt werden solche Besuche grundsätzlich nicht, um Sicherheitsrisiken zu minimieren. Denkbar ist auch, dass man sich noch nicht über den genauen Tag einigen konnte.»
Ausserdem sei der Besuch heikel, erklärt Dembinski. «Die drei Männer vertreten Staaten, die nicht in der vordersten Linie der militärischen Unterstützer standen, obwohl auch Deutschland substantielle Waffenlieferungen zugesagt hat. Sie haben eher durchblicken lassen, dass sie sich einen Verhandlungsfrieden vorstellen können.»
Dieser Ansicht ist auch der ehemalige estländische Staatschef Toomas Hendrick Ilves. Wie bereits der deutsche «Tagesspiegel» berichtet hat, kritisiert Ilves den offenbar geplanten Besuch. Dass Macron, Scholz und Draghi nach Kiew gehen würden, ohne den polnischen Staatschef Andrzej Duda mitzunehmen, sei «der dümmste politische Fehltritt» von westlichen Staats- und Regierungschefs der EU seit der Einladung des russischen Präsidenten Wladimir Putin an den G7-Gipfel im vergangenen Jahr.
Macron, Scholtz and Draghi going to Kyiv to talk to Zelensky without taking Duda is probably the dumbest political misstep by Western EU leaders since Merkel and Macron decided in 2021 to hold a summit with Putin and didn't bother to consult with EU states bordering Russia first.
— toomas hendrik ilves (@IlvesToomas) June 12, 2022
Ob der Besuch demnächst stattfinden wird, dürfte auch ein Einfluss auf das diesjährige G7-Treffen haben. Am 23. und 24. Juni soll der EU-Gipfel darüber diskutieren, welche Aussichten die Ukraine hat, der Union beizutreten.
Von den 27 Mitgliedstaaten äussern sich bislang nur Polen und die baltischen Staaten proaktiv dafür, dass die Ukraine den EU-Kandidatenstatus beim bevorstehenden Gipfel erhält. Andere, darunter auch Deutschland und Frankreich, stehen einem beschleunigten EU-Verfahren kritisch gegenüber.