Mehrfach hatte die SVP versucht, die Kandidatur der Schweiz für einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu verhindern. Stets war sie im Parlament gescheitert. Am letzten Donnerstag, dem Tag der Entscheidung, demonstrierte sie auf dem Bundesplatz mit Transparenten und der Aufschrift «Jetzt ist die Schweiz definitiv Kriegspartei».
Zu verhindern war die Wahl nicht mehr. Die Schweiz wurde auch mangels Gegenkandidaten von der Uno-Generalversammlung in New York mit 187 von 192 Stimmen für 2023 und 2024 in den Sicherheitsrat gewählt. Botschafterin Pascale Baeriswyl wird am (fast) runden Tisch Platz nehmen und unter Umständen über Krieg und Frieden entscheiden müssen.
Andere neutrale Staaten wie Österreich und Schweden haben wiederholt im Sicherheitsrat Einsitz genommen. Für die SVP und ihr dogmatisches Verständnis von Neutralität aber ist dies ein Sündenfall für die Schweiz. Dabei hat sie sich nie strikt aus Konflikten und Kriegen herausgehalten. Im Kalten Krieg war die Schweiz ein Teil der westlichen Allianz.
Dennoch beschränkte sich die Kritik nicht auf die SVP. «Die Schweiz hätte besser nie für den Uno-Sicherheitsrat kandidiert», kommentierten die Tamedia-Zeitungen. Dabei geht es nicht so sehr um die Neutralität an sich. Befürchtet wird, dass der Apparat im Bundeshaus für die oftmals schnelle Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat «schlicht nicht ausgelegt» sei.
Die Diagnose ist nicht falsch. Der Bundesrat und das Aussendepartement EDA haben sich in den letzten Jahren nicht durch strategisches Geschick ausgezeichnet. Wiederholt wirkten sie überfordert, vor allem in der Europapolitik. Auch vom russischen Überfall auf die Ukraine wurde man überrascht. Entsprechend kopflos waren die Reaktionen zu Beginn.
Die Kandidatur für den Sicherheitsrat hatte die Schweiz 2011 eingereicht. Damals war Wladimir Putins erste Aggression gegen die Ukraine mit der Annexion der Krim 2014 nicht absehbar, geschweige denn der heutige Krieg. Warnungen vor einem neuen Kalten Krieg zwischen dem westlichen und einem russisch-chinesischen Block wollte niemand hören.
Jetzt wird die Schweiz in dieser schwierigen Gemengelage dem Sicherheitsrat angehören. Heikle Entscheidungen sind absehbar. Sie können eine Chance sein, den Stellenwert der Neutralität in der «Weltunordnung» des 21. Jahrhunderts zu vertiefen. Denn vor allem in den USA wird die Neutralität der Schweiz nicht nur positiv beurteilt.
Im Zweiten Weltkrieg war sie aus Sicht der Amerikaner eine Kollaborateurin des Nazi-Regimes. Auch aus diesem Grund positionierte sich die Schweiz im Kalten Krieg im westlichen Lager. Doch die alte Skepsis ist nicht überwunden. «Even Switzerland» habe die Sanktionen gegen Russland übernommen, meinte Präsident Joe Biden erstaunt.
Der Ukraine-Krieg ist ein erneuter Stresstest für die Schweizer Neutralität. Dies zeigt sich auch anhand der Debatte über mögliche Waffenlieferungen, ob direkt oder indirekt, oder eine Annäherung an die Nato. Am letzten Donnerstag, an dem die Schweiz in den Sicherheitsrat gewählt wurde, votierte der Nationalrat zudem für einen weiteren Tabubruch.
Künftig solle die Schweiz eingeständige Strafmassnahmen verhängen dürfen, entschied die grosse Kammer mit 136 zu 53 Stimmen unerwartet deutlich und gegen den Willen des Bundesrats. Ob der Ständerat mitzieht, wird sich zeigen. Bei der ersten Beratung des Embargogesetzes vor acht Monaten hatte er eigenständige Sanktionen abgelehnt.
Die Befürworter im Nationalrat sprachen von einem Gewinn an Souveränität, und dass sich die Welt mit dem Ukraine-Krieg verändert habe. Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis (FDP), für viele bislang eher ein Teil des Problems als der Lösung, suchte am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos Ende Mai eine Art Befreiungsschlag.
In seiner Eröffnungsrede prägte er den Begriff «kooperative Neutralität». Als neutrales Land setze sich die Schweiz für die Stärkung von Grundwerten, die Sicherung von Friedensbemühungen und für eine regelbasierte und stabile Sicherheitsarchitektur ein, sagte Cassis. Kritiker fühlten sich an die «aktive Neutralität» von Micheline Calmy-Rey erinnert.
Hat Ignazio Cassis den Neutralitätsbegriff um ein weiteres nichtssagendes Adjektiv erweitert? Oder hat die kooperative Neutralität das Zeug, «zur aussenpolitischen Formel der kommenden Jahre zu werden», wie die NZZ in einem wohlwollenden Kommentar meinte? Letztlich kommt es nicht auf die Hülle an, sondern auf den Inhalt.
Die Schweiz muss angesichts des Ukraine-Kriegs ihre Neutralität quasi neu erfinden. Die Tamedia-Redaktion zeigte sich auch in dieser Hinsicht skeptisch. Sie fürchtet, dass die Zeit für SVP-Doyen Christoph Blocher und seine Volksinitiative für eine «integrale Neutralität» – noch ein Adjektiv – arbeiten wird, vor allem wenn der Krieg noch lange dauern sollte.
Falls der Bundesrat die neue Rolle, ob bei den Sanktionen oder im Sicherheitsrat, nicht überzeugend wahrnehme, «könnte Igelmentalität bald wieder Schweizer Mainstream werden», heisst es im Leitartikel. Ein Zurück aber wird es nicht geben, und die Schweizer Bevölkerung beurteilt die Neutralität durchaus pragmatisch, wie eine Gallup-Umfrage zeigt.
Selbst eine Annäherung an die Nato wird von knapp 50 Prozent der Befragten unterstützt. Womöglich ist das Volk in dieser Frage weiter als manche Politiker – nicht nur aus der SVP – und Medienleute. Neutralität ist eben kein Dogma, sondern ein flexibles Konzept, das immer wieder an die Herausforderungen der Zeit angepasst werden muss.
Deshalb ist auch die Teilnahme am Uno-Sicherheitsrat zwar nicht ohne Risiko, aber eben auch eine Chance. «Augen zu und durch!», muss das Motto für die Schweiz laut dem Tamedia-Kommentar heissen. In Wirklichkeit lautet die Devise: Jetzt erst recht!
Wenn nun ein Multimilliardär kommt und etwas von «integraler Neutralität» fabuliert, dann heisst das doch nur, dass er selbst den Bruch der Genfer Konvention akzeptiert, weil er weiter mit dem Verbrecher Geschäfte machen will.
Mir kommt das vor, wie wenn jemand zuschaut, wie jemand brutal angegriffen wird und sich nicht einmal auf die Seite des Angegriffenen stellt, weil er's sich nicht mit dem Verbrecher verderben will.
Wenn Neutralität heisst, dass wir einfach bei Allem wegschauen, dann tun wir uns keinen Gefallen! Man kann doch gleichzeitig neutral sein und trotzdem Verbrechen ahnden. Alles andere ist der übrigen Welt berechtigterweise nur schwer zu vermitteln.
Ich gehe davon aus, dass die meisten Schweizer nicht als rückgratlose Kriegsgewinnler wahrgenommen werden wollen und der integralen Neutralität deshalb eine Abfuhr erteilen werden.