Für unbedachte Äusserungen ist Jens Stoltenberg eigentlich nicht bekannt. Umso mehr aufhorchen lässt ein Satz, den der Nato-Generalsekretär in einer Podiumsdiskussion am Rande seines Besuchs in Finnland formulierte:
Das sagte Stoltenberg mit Blick auf den Ukraine-Krieg. Dazu gehöre die Abwägung, wie viel Territorium, Unabhängigkeit, wie viel Freiheit und Demokratie die Ukraine dafür abzutreten bereit sei.
Zwar schränkte Stoltenberg seine Aussage umgehend ein: Es liege allein in den Händen der Ukrainer, über dieses «moralische Dilemma» zu befinden. Die Rolle der Nato sei es, die Position Kiews für künftige Friedensverhandlungen grösstmöglich zu stärken – auch mit weiteren Waffenlieferungen. Aber selbst Präsident Wolodomir Selenskyj habe schon viele Male gesagt: «Dieser Krieg wird am Verhandlungstisch beendet werden.»
Ist das nun ein Schwenk der Nato in die Richtung der Position, wie sie der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger vertritt? Beim Weltwirtschaftsforum in Davos stellte der 98-jährige Friedensnobelpreisträger in den Raum, die Ukraine müsse für einen Frieden auf Gebiete wie die Krim oder Teile des Donbass verzichten.
Damit löste er zwar auf Seiten der Ukrainer grosse Empörung aus. Hinter vorgehaltener Hand zweifelt man aber auch in westeuropäischen Regierungskreisen, ob es Kiew wirklich gelingen wird, die Russen vollständig aus ihrem Land herauszuschmeissen.
Für grosses Aufsehen sorgte zudem die Äusserung von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dass man Russland nicht demütigen dürfe und Präsident Putin eine Brücke bauen müsse, um aus dem Konflikt herauszukommen. Deutschlands Kanzler Olaf Scholz seinerseits hat es bis heute nicht geschafft, öffentlich festzuhalten, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen müsse.
Gleichzeitig verändert sich die Situation auf dem Feld in den letzten Wochen langsam, aber stetig zu Gunsten der Russen. Die Schlinge um die ukrainischen Truppen in der Industriestadt Sjewjerodonezk, welche noch etwa ein Drittel des Gebiets halten, zieht sich immer weiter zu.
Vadym Skibitsky, der stellvertretende Chef des ukrainischen Militärgeheimdiensts, sagte dem «Guardian», die ukrainische Armee sei den Russen in der gegenwärtigen Artillerieschlacht im Verhältnis eins zu zehn unterlegen. Die Munitionsvorräte würden langsam zur Neige gehen. Selenskyj-Berater Oleksiy Arestowych listete auf, welche Waffen die Ukraine vom Westen jetzt brauche. Dazu gehören nicht weniger als 600 Artillerie-Haubitzen, 500 Panzer, 2500 gepanzerte Mannschaftstransporter und hunderte Mehrfachraketenwerfer. Von westlichen Waffenlieferungen in dieser Grössenordnung ist man jedoch noch weit entfernt.
Erstmals zeigen sich auch Verstimmungen zwischen der Ukraine und ihrem tatkräftigsten Helfer, den USA. Bei einer Spendenveranstaltung in Los Angeles am vergangenen Freitagabend warf Präsident Joe Biden seinem ukrainischen Amtskollegen vor, zu Jahresbeginn nicht auf die US-Warnungen vor einem russischen Angriff reagiert zu haben. «Es gab keinen Zweifel. Und Selenskyj wollte es nicht hören – viele Leute wollten es nicht», sagte Biden.
Tatsächlich spielte die Ukraine noch Anfang Februar eine bevorstehende Invasion Russlands als Alarmismus herunter. «Der beste Freund für die Feinde ist Panik in unserem Land», sagte Selenskyj. Als die Russen dann am 24. Februar angriffen, konnten sie vor allem im Süden von der Krim her in kurzer Zeit grosse Gebietsgewinnen machen. Selenskyj musste sich vorwerfen lassen, das Land nicht genügend vorbereitet zu haben.
In einer Reaktion auf die Biden-Äusserung forderte Kiew am Samstag von Biden, die Formulierung «hat nicht hören wollen» sei zu erklären. Selenskyj habe die Warnungen aus Washington und von westlichen Geheimdiensten durchaus ernst genommen. Selenskyj-Sprecher Serhij Nykyforow betonte in einem Interview, dass die Ukraine ihre Partner immer wieder dazu aufgerufen habe, präventiv Sanktionen gegen Russland zu ergreifen. «Und hier kann man schon auch sagen, dass unsere Partner uns nicht hören wollten», so Nykyforow.