International
Russland

Wo der Wille liegt: So prägt die Moral die Gegenoffensive in der Ukraine

epa10731566 (FILE) - A Ukrainian soldier relieved from his position on frontline smokes a cigarette as he rests at an underground area near Vuhledar, Donetsk region, Ukraine, 07 March 2023. Outside, t ...
Ist das Ziel den Kampf wert? Werden die richtigen Entscheidungen getroffen? Fragen, die die Motivation von Soldatinnen und Soldaten beeinflussen können.Bild: keystone

Wo der Wille liegt: So prägt die Moral die Gegenoffensive in der Ukraine

14.07.2023, 22:21
Joana Rettig / watson.de
Mehr «International»

Der Krieg in der Ukraine ist in gewisser Weise ein Novum. Zwar kämpfen russische und ukrainische Streitkräfte, ähnlich wie in vielen vorherigen Gefechten, an einer fast klar definierten Frontlinie. Die eingesetzten Waffen – vor allem von russischer Seite – erinnern häufig an den Ersten oder Zweiten Weltkrieg, stammen teils sogar aus diesen Zeiten.

Doch etwas ist neu. Und es macht die tödlichen Kämpfe quasi zu einem Live-Spektakel für die ganze Welt.

Die Rede ist natürlich von der durch das Internet vernetzten Welt. Bilder, Videos, Sprachnachrichten, Live-Schalten auf Youtube oder Instagram, Twitter-Spaces. Alles, was im Gefecht geschieht, könnte binnen Sekunden in die Welt getragen werden.

Das gilt aber auch in die andere Richtung. Soldat:innen könnten theoretisch etwa durch Starlink-Verbindungen mitten in den heftigsten Kämpfen ihr Handy herausholen und die neuesten Nachrichten lesen, Instagram checken oder mit ihren Freund:innen chatten.

Was aber bedeutet das für die Moral jener, die täglich ihr Leben für die Freiheit der Ukraine riskieren?

Gerade während der heissen Phase der Gegenoffensive ist die Moral einer der wichtigsten Faktoren im Krieg. Wer in den vergangenen Monaten die Medien verfolgt hat, weiss, dass der geplante Schlag gegen Russland kaum zu umgehen war.

Und auch jetzt wird viel spekuliert, geurteilt, kritisiert.

Gegenoffensive: Grosse Erfolge wurden versprochen

Dass etwaige Nachrichten jene beeinflussen könnten, die an der Front kämpfen, vergessen viele. Vor allem ausserhalb der Ukraine stellen sich die Menschen den Krieg wie ein durchgehendes Massaker vor – und das abgeschnitten vom Rest der Welt. Übertritt man die Grenze, glauben viele, ist man im Kriegsgebiet – und das ist lebensgefährlich.

epa10660073 A couple bid each other farewell at the railway station in Kramatorsk, Donetsk region, Ukraine, 28 May 2023. Under martial law, Ukrainian servicemen are entitled to 10 days of vacation per ...
Frauen besuchen häufig ihre Männer bei ihrem Einsatz – wie hier am Bahnhof in Kramatorsk.Bild: keystone

Dass selbst in den umkämpften Gebieten der Ukraine etwas Ähnliches wie ein Alltag stattfindet, ist kaum vorstellbar. Und dass Soldat:innen am Abend – nach getaner Schicht quasi – 30 Minuten Auto fahren und in einer funktionierenden Stadt zum Pizza-Essen verabredet sind, schon mal gar nicht.

epa10660084 A couple hug at the railway station in Kramatorsk, Donetsk region, Ukraine, 28 May 2023. Under martial law, Ukrainian servicemen are entitled to 10 days of vacation per year. Some of their ...
Frauen besuchen häufig ihre Männer bei ihrem Einsatz – wie hier am Bahnhof in Kramatorsk.Bild: keystone

Doch genauso läuft es an vielen Stellen der Frontgebiete ab.

Dass die Moral der Kämpfer:innen von sehr grosser Bedeutung ist, macht auch Militärpsychologe Hubert Annen deutlich. Er leitet den Studiengang Militärpsychologie und Militärpädagogik an der Militärakademie der ETH Zürich. Auf Anfrage von watson sagt er: «Die Frage der Moral stellt sich in der aktuellen Phase ganz besonders.» Durch die monatelang angekündigte Offensive sei Erfolg in Aussicht gestellt worden.

Das kann motivieren, aber bei Misserfolgen eben auch in die andere Richtung schlagen.

Grundsätzlich, sagt Annen, hätten in der Literatur mindestens fünf Faktoren Einfluss auf die Motivation im Gefecht und darauf, ob die Soldat:innen an der Front (weiterhin) kämpfen.

  • Legitimität der Zielsetzung
  • Bewältigung der Angst
  • Vertrauen
  • Führungsqualität
  • Einsatz für die Kleingruppe
  • Selbsterhaltungstrieb

Die meisten dieser Faktoren werden auch durch Social Media und Nachrichtenseiten beeinflusst. Dass die Verteidigung des Heimatlandes eine legitime Zielsetzung ist, bedürfe an sich keine weitere Erklärung, meint Annen. «Dieser Faktor war und ist ausschlaggebend für den hartnäckigen Widerstand der ukrainischen Streitkräfte», sagt er. Doch ob die Strategie, die die ukrainischen Streitkräfte innerhalb ihrer Gegenoffensive fahren, die richtige ist, wird auch in Talkshows und etwa auf Twitter heiss diskutiert.

Diskussion über Waffenlieferung beeinflusst Moral

Und auch das könnte zumindest in Teilen auf die Einstellung zur Zielsetzung einwirken.

Ziel der ukrainischen Militärführung ist offensichtlich, die russisch besetzten Gebiete zu zerteilen. Bisher hält Russland einen breiten Schlauch besetzt, der eine Front bildet, die vom Osten bis in den Süden des Landes führt.

Diesen Schlauch versucht die ukrainische Armee zu zerteilen – so wäre auch die Infrastruktur und damit die Versorgung der russischen Soldaten gehemmt.

Öffentliche Diskussionen darüber sind hierzulande vollkommen gängig. Genauso wie die Berichterstattung oder Social-Media-Beiträge über Tote, über Verletzte, über Aussichten auf Erfolg. Dabei kann Angst durch soziale Medien gefördert und Vertrauen zerstört werden. Werden Anführer öffentlich durch den Dreck gezogen, können Soldat:innen auch beginnen, ihre Führung zu hinterfragen. Annen nennt ein Beispiel aus der Vergangenheit:

«Mangelnde Führungsqualität wird unter anderem als Grund für den Misserfolg der US-amerikanischen Truppen im Vietnamkrieg genannt. Nicht umsonst kam es dort zu mehreren hundert nachgewiesenen Fällen von Fragging, bei dem Soldaten ihre Vorgesetzten umbringen.»

Ein weiterer bedeutsamer Punkt: Waffenlieferungen.

Laut Annen lässt die Moral nach, wenn Soldat:innen den Eindruck haben, mit der ihnen zur Verfügung gestellten Ausrüstung könnten sie den Auftrag nicht erfüllen. Lesen und hören sie tagtäglich davon, wie schwierig der Weg zu weiteren Waffenlieferungen ist, wissen aber gleichzeitig, dass ihnen etwa Munition oder gar ganze Waffensysteme ausgehen, kann sie das demotivieren.

Und Demotivation kann eine ganze Mission torpedieren. In der Vergangenheit wurde auch immer wieder darauf verwiesen, wie die teils komplett fehlende Moral der russischen Streitkräfte diese oft in Bedrängnis brachte.

Unterstützung des Volks ist wichtig

Auch die sogenannte «Heimatfront» sei «nachgewiesenermassen ein relevantes Element», meint Annen. Diese sei auch im Vietnamkrieg von 1955 bis 1975 ein sich negativ auswirkender Faktor gewesen. «Zu wissen, dass die eigene Bevölkerung nicht hinter dem militärischen Einsatz steht, schlägt massiv auf die Moral der Soldaten», sagt der Experte. Diese Unterstützung erhält die ukrainische Armee allerdings – moralisch, aber auch monetär.

Serhii Zinko, a twelve year-old boy, waves a national Ukrainian flag to a military car on the highway near Lyman, Ukraine, Monday, June 26, 2023. (AP Photo/Alex Babenko)
Ein Junge winkt mit der ukrainischen Flagge am Strassenrand den Soldaten zu, die Richtung Bachmut fahren.Bild: keystone

Viele ukrainische Privatmenschen spenden grosse Teile ihres Einkommens, starten selbst Spendenaktionen, um die Soldat:innen mit Ausrüstung, Fahrzeugen oder gar mit Drohnen auszustatten. Kinder malen regelmässig Bilder für die Kämpfer:innen an der Front, in sozialen Medien werden die Militärs als Helden gefeiert.

Doch Annen warnt: «Die ukrainische Armee tut gut daran, mit geschickter Informationsführung den Glauben der Bevölkerung an die Schlagkraft ihrer Truppen aufrechtzuerhalten.» Das ist offenbar in den vergangenen Monaten teilweise missglückt. Denn um den Glauben aufrechtzuerhalten, dürften keine übertriebenen Erwartungen geschürt werden. Das sei mit der Ankündigung der Gegenoffensive mehr oder weniger bewusst trotzdem geschehen.

Selenskyj dämpft Erwartungen an Gegenoffensive

Die Ukraine hatte gar einen eigenen Trailer für die Gegenoffensive veröffentlicht. Mittlerweile versuchen die führenden Kräfte jedoch, die Erwartungen wieder zurückzuschrauben. Etwa sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich im Interview mit BBC: «Einige Leute glauben, dies sei ein Hollywood-Film und erwarten jetzt Ergebnisse. Das ist es aber nicht». Was auf dem Spiel stünde, seien Menschenleben.

«Es geht vor allem darum, die Truppen Erfolge spüren zu lassen und Erfolge auch gut zu vermarkten», meint der Experte. «Solange es immer wieder glaubwürdige Erfolgsmeldungen gibt, dürfte die Truppe die moralische Kraft zum Weiterkämpfen mobilisieren können.»

Dass im Vergleich zu vergangenen Kriegen Social Media und die unmittelbare Verfügbarkeit und Steuerbarkeit von Informationen, Bildern und Videos eine ungleich grössere Rolle für das Empfinden der Kämpfer:innen spielt, müsste auch in der politischen Führung anerkannt und «zielführend Einfluss genommen werden».

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Der Wagner-Aufstand in 25 Bildern
1 / 27
Der Wagner-Aufstand in 25 Bildern
Sicherheitskräfte und gepanzerte Fahrzeuge besetzen das Hauptquartier der russischen Armee des südlichen Militärbezirks, 24. Juni 2023.
quelle: epa / stringer
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Ukraine Dammbruch: So werden Mensch und Tier gerettet
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
15 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Cpt. Jeppesen
14.07.2023 22:43registriert Juni 2018
Die Erwartung von Hollywood-like Erfolgen wird nicht zuletzt durch westliche Medien geschürt. Ich habe den Eindruck, man sucht immer noch Gründe, warum man der Ukraine Waffen liefert. Der Kampf um ihre Freiheit scheint als Motiv nicht genug zu sein. Dazu kommen die Überraschungserfolge bei Kherson und Kharkiv. Dass das nicht immer so gehen kann verstehen auch viele Journalisten nicht.
Die Gegenoffensive läuft, nur anders als erwartet. Erst wird die Logistik ausgeschaltet, dann die Schwachstellen gefunden und erst dann ein Angriff gestartet. Das braucht viel Zeit und schont Menschenleben.
454
Melden
Zum Kommentar
avatar
Popo Catepetl
14.07.2023 23:56registriert September 2014
Wenn man sich die Menge der Befestigungsanlagen angeschaut hat, die die Russen in den letzten Monaten gebaut haben, konnte man erahnen, dass die ukrainische Armee da nicht einfach durchspaziert wie in Cherson und Charkiv. Es war zu erwarten, dass das am Anfang harzig wird. Ich kann mir aber vorstellen, dass, wenn die ersten zwei Verteidigungslinien durchbrochen sind, es dann plötzlich recht schnell gehen könnte.
295
Melden
Zum Kommentar
15
Zehntausende feiern Sturz Assads bei Freitagsgebet in Damaskus – das Syrien-Update

Zehntausende Menschen haben in Syrien während des Freitagsgebets den Sturz des Machthabers Baschar al-Assad gefeiert.

Zur Story