Oleh Kotenko sitzt an einem Sitzungstisch in einem schlichten Büro im Aussendepartement in Bern und fingert an seinem Handy herum. Endlich hat er das Video gefunden, das er dem Journalisten vorführen will. Film ab: Ukrainische Soldaten fahren in einem Auto durch ein völlig zerstörtes Dorf, das offenbar erst vor kurzem von den russischen Truppen befreit worden ist. Zu Fuss begibt sich die Truppe in einen Wald. In einem Graben, unter einem umgestürzten Baum, liegt eine halbverweste Leiche. Später sind zwischen den Bäumen zahllose Holzkreuze zu sehen.
Im Film tritt Kotenko auf. Letzten September gehörte er zu den ersten, die im Wald von Isjum auf über 400 Gräber stiessen. Der Fund sorgte im September 2022 weltweit für Schlagzeilen. Es war einer seiner ersten öffentlichen Auftritte als Vermisstenbeauftragter der ukrainischen Regierung. Oder wie sein Titel offiziell heisst: als «Kommissar für unter besonderen Umständen vermisste Personen». Er gehe davon aus, dass die Toten im Wald von Isjum dem russischen Artilleriebeschuss zum Opfer gefallen seien, sagte Kotenko damals.
Im Juni, gut ein halbes Jahr später, ist der Mann mit stechendem Blick und eisernem Händedruck in beruflicher Mission unterwegs in der Schweiz. Er besucht das Komitee vom Internationalen Roten Kreuz (IKRK) in Genf und trifft in Bern Botschafter Simon Geissbühler, Chef der Abteilung Frieden und Menschenrechte. Die Reise hat er unternommen, um in der Schweiz die weitere Hilfe für seine Aufgabe zu koordinieren: Das Auffinden und Identifizieren von vermissten Personen in den kriegsversehrten, von den Russen befreiten Gebieten der Ukraine.
Im Gespräch mit CH Media erklärt Kotenko seine Arbeit. Er hat mehrere Suchtrupps rekrutiert, die nach unmarkierten Massengräbern suchen oder auf Gräberfeldern wie in Isjum die Toten exhumieren und sie soweit möglich identifizieren. Eine gefährliche Aufgabe: Beim Absuchen ehemaliger Schlachtfelder ist ein Mitarbeiter durch Minen verletzt, ein zweiter getötet worden.
Nebst der Arbeit im Feld betreibt sein Kommissariat mehrere regionale Büros sowie eine Datenbank, wo Angehörige die Namen von Vermissten melden können. Seit einem Jahr ist die Datenbank online, inzwischen sind dort gegen 25'000 Namen registriert - von Soldaten und Zivilpersonen. Immerhin 8000 davon wurden gefunden, 2000 davon allerdings nur mehr tot. Es gehöre zu den Aufgaben seiner Organisation, Angehörige zu informieren, auch psychologische Hilfe zu leisten, erzählt der Kommissar. Er selber führte laut eigenen Angaben 350 solche Gespräche.
Bei über 1700 der aufgefundenen Toten handelt es sich laut Kotenko um gefallene ukrainische Soldaten. Deren Identifizierung sei insofern einfacher, als alle Wehrpflichtigen beim Einzug eine DNA-Probe abgeben müssten. Für die Identifizierung auch wichtig: Angaben der Angehörigen über besondere Merkmale, zum Beispiel Tattoos.
Seine Suchtrupps stossen auch auf gefallene Russen. Über diverse Kanäle, unter anderem auch dank dem IKRK, findet ein Austausch der Gefallenen beider Seiten statt, so dass sich die Hinterbliebenen von ihren Angehörigen verabschieden und sie bestatten können.
Kotenko ist eine schillernde Figur. Zu seinem offiziellen Auftrag kam er im Mai 2022, nachdem er schon seit 2014 mit einer von ihm gegründeten privaten Organisation in der Ostukraine nach Vermissten gesucht und mit den prorussischen Kräften in der Ostukraine den Austausch von Gefangenen organisiert hatte.
In den ersten Tagen nach dem Überfall der russischen Truppen Anfang 2022 schlüpfte er dann aber in die Rolle eines Elitesoldaten und organisierte «ein Sonderkommando von zwölf Leuten», wie er dem Schriftsteller Stanislaw Assejew berichtete. Er habe bei einem Einsatz zwei Männer einer Spezialeinheit des russischen Geheimdienstes getötet. Später sei er aber von einer Mine verletzt worden, weil er unachtsam gewesen sei. So steht es in einem Artikel Assejews, den die «NZZ am Sonntag» publizierte.
Schon in dem Artikel kündete Kotenko an: «Die Regierung will mich nun wieder für den Austausch von Gefangenen haben. Ich sage wahrscheinlich zu.» Die Kontakte in die höchsten Kreise in Kiew sind offensichtlich gut. So war denn Kotenko auch zugegen, als Bundespräsident Ignazio Cassis im Oktober 2022 in Kiew bei Präsident Selenski zu Besuch war.
Auf diesen Besuch gehen zwei konkrete Hilfsprojekte der Schweiz zurück: «Wir haben Kotenkos Organisation zwei moderne DNA-Analysegeräte zukommen lassen, damit sie die Leichen schnell und zuverlässig identifizieren können», sagt Botschafter Geissbühler. Jedes der Geräte kostete rund 175'000 Franken. Hinzu kamen weitere 70'000 Franken für den Aufbau der lokalen Büros. «Es ist für die Hinterbliebenen sehr wichtig, Gewissheit zu haben, selbst wenn es eine traurige Gewissheit ist.» Dies sei eine Voraussetzung, abschliessen zu können - was wiederum eine wichtige Voraussetzung dafür sei, dereinst Frieden zu schliessen, sagt Geissbühler. (aargauerzeitung.ch)