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Wie Wagner fast an nukleare Waffen gekommen wäre

Wie Wagner fast an nukleare Waffen gekommen wäre

12.07.2023, 06:0012.07.2023, 13:35
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Am 24. Juni machte sich die rebellische Wagner-Truppe unter der Führung von Jewgeni Prigoschin auf den Weg nach Moskau. Grund dafür sei ein Angriff der russischen Armee auf das Wagner-Militärlager am selben Tag gewesen, so der Wagner-Chef.

Mit dem Marsch habe er sowohl gegen diesen Angriff als auch gegen die vom Verteidigungsministerium angestrebte Auflösung seiner Wagner-Truppe protestieren wollen. Dies habe Prigoschin in einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin erklärt, bestätigte der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag.

FILE - In this handout photo taken from video released by Prigozhin Press Service, Yevgeny Prigozhin, the owner of the Wagner Group military company, records his video addresses in Rostov-on-Don, Russ ...
Prigoschin am 24. Juni in Rostow am Don, der russischen Stadt, die er an diesem Tag besetzte.Bild: keystone

Mit keinem Wort aber wurde erwähnt, dass ein Teil der Wagner-Gruppe am 24. Juni, auf dem Weg in den Norden nach Moskau, plötzlich nach Osten abgebogen war ...

Wo wollte der Wagner-Konvoi hin?

Erste Berichte über den Wagner-Konvoi zirkulierten bereits einen Tag nach dem Aufstand auf Twitter. Einerseits über den Kriegsblogger Igor Shushko, andererseits auch über die russische Partisanengruppe «Russlands Freiheit». Sie sagt, der Konvoi sei unterwegs zum befestigten russischen Armeestützpunkt Woronesch-45 gewesen, wo sich angeblich Atomwaffen befinden sollen. Und nicht nur das: Die Wagner-Truppen hätten sogar die Kontrolle über den Armeestützpunkt übernommen und seien eine Weile dort geblieben.

Diesen Informationen ist die Nachrichtenagentur Reuters nachgegangen. Anhand von online veröffentlichten Videos sowie Interviews mit Anwohnern konnte sie die Spur des nach Osten abgebogenen Konvois verfolgen. So soll dieser bereits im ersten Dorf, das er erreichte, in ein Feuergefecht mit russischen Streitkräften geraten sein.

Dann aber sei er die nächsten 90 Kilometer ohne jegliche Zwischenfälle bis zur Stadt Talovaya vorgerückt, so Reuters weiter. Dort – 100 km vom Armeestützpunkt entfernt – sei der Konvoi erneut angegriffen worden, berichteten Anwohner gegenüber Reuters. Dabei sei ein russischer Helikopter abgeschossen worden.

Was dann geschah, weiss Reuters nicht. Westliche Beamte hätten laut der Nachrichtenagentur aber wiederholt erklärt, dass das Atomwaffenarsenal während des Aufstandes nie in Gefahr gewesen sei.

Im Interview mit Reuters sagt der Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanov, allerdings etwas anderes. Gemäss seinen Angaben hat der Wagner-Konvoi den Atomstützpunkt erreicht. Er erklärt:

«Wenn du bereit bist, bis zum letzten Mann zu kämpfen, ist dies eine der Einrichtungen, die den Druck deutlich erhöht.»

Was wollte Wagner beim Militärstützpunkt?

Laut Budanov würden in Woronesch-45 kleine Nuklearsprengkörper gelagert, die in einem Rucksack transportiert werden können. Daran dürfte Wagner interessiert gewesen sein. Der Armeestützpunkt sei eine der wichtigsten Lagereinrichtungen dafür, so der Leiter des ukrainischen Geheimdienstes weiter.

Ob derartige Waffen tatsächlich dort gelagert werden, konnte Reuters nicht feststellen und Budanov selber legte keine Beweise vor. Einem Bericht von UN-Wissenschaftlern zufolge handelt es sich aber bei Woronesch-45 um eines der 12 russischen Atomwaffenlager auf nationaler Ebene.

Bei den kleinen Atombomben, die sich laut Budanov noch dort befinden sollen, handelt es sich um ein Relikt aus dem Kalten Krieg. Eigentlich hatten sich die USA und Russland Anfang der 1990er-Jahre darauf geeinigt, diese Waffen aus ihren Arsenalen zu entfernen.

Einige US-Beamte weisen aber darauf hin, dass man nicht sicher wisse, ob Russland diese Waffen tatsächlich zerstört habe. Reuters zitiert David Jonas, den ehemaligen Chefberater der U.S. National Security Administration, welche die Atomwaffen und radioaktives Material weltweit überwacht:

«Ich glaube nicht, dass die Russen sie noch haben, aber ich würde mein Leben nicht darauf verwetten.»

Was hätten sie mit den Waffen anstellen können?

Womöglich nicht so viel. Matt Korda, Senior Research Associate und Projektleiter für das Nuclear Information Project bei der Federation of American Scientists, relativiert gegenüber Reuters. Für einen nichtstaatlichen Akteur sei es praktisch unmöglich, die russische Nuklearsicherheit zu durchbrechen. Er bezweifelt, dass ein Soldat der Wagner-Truppe in der Lage wäre, eine Bombe zu zünden:

«Wenn ein böswilliger Akteur in der Lage wäre, eine Atomwaffe in die Hände zu bekommen, würde er die Waffen in einem Zustand unvollständiger Montage vorfinden. Um sie zu vervollständigen, müsste man spezielle Ausrüstung installieren und dann die Erlaubnis für bestimmte Aktionen erhalten.»

Und dafür, so der Experte, brauche es jemanden aus dem 12. Direktorat, welches für den Schutz des russischen Atomwaffenarsenals zuständig ist.

Amy Woolf, die von 1988 bis 2022 als Nuklearwaffenspezialistin für US-Gesetzgeber an der Library of Congress tätig war, zweifelt derweil an der Funktionalität der Nuklearwaffen:

«Es ist möglich, dass noch immer irgendwo alter Schrott gelagert wird. Aber ist er einsatzfähig? Mit ziemlicher Sicherheit nicht.»

Laut Budanov scheiterten die Wagner-Soldaten ohnehin schon an einem früheren Punkt. Sie hätten den Armeestützpunkt zwar erreicht, aber zu den Waffen seien sie nicht gelangt:

«Die Türen des Lagers waren verschlossen und sie kamen nicht in den technischen Bereich.»

Erreichten die Wagner-Soldaten den Stützpunkt überhaupt?

Gemäss Budanovs Darstellungen: ja. Auch eine dem Kreml nahestehende Quelle mit militärischen Verbindungen bestätigte gegenüber Reuters einige von Budanovs Aussagen. Demnach sei es einer Gruppe von Wagner-Soldaten gelungen, «in eine Zone von besonderem Interesse einzudringen, woraufhin sich bei den Amerikanern Unruhe breitmachte, weil dort Nuklearmunition gelagert wird».

Eine weitere Quelle aus dem von Russen besetzten Osten der Ukraine nannte dies als Grund für das hastig eingeleitete Ende des Aufstandes, welches vom belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko vermittelt worden war.

Die USA äussern Zweifel an diesem Hergang. Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates des Weissen Hauses, Adam Hodge, antwortete auf Anfrage von Reuters:

«Wir können diesen Bericht nicht bestätigen. Wir hatten zu keinem Zeitpunkt Hinweise darauf, dass Atomwaffen oder -materialien in Gefahr waren.»

Weitere Experten weisen gegenüber Reuters zudem darauf hin, dass ein Transport von Nuklearwaffen zeitaufwendig gewesen wäre und mit grosser Wahrscheinlichkeit von amerikanischen Satelliten hätte beobachtet werden können.

Wie konnten die Soldaten den Stützpunkt angeblich so einfach übernehmen?

Laut dem Militärblogger Igor Sushko ist die gesamte dort anwesende russische Militäreinheit zur Wagner-Seite übergelaufen oder hat sich ergeben. Dies hätten unter anderem Quellen innerhalb der Wagner-Gruppen bestätigt.

Dasselbe erfuhr Reuters von fünf Quellen. Ihnen zufolge sind russische Militäreinheiten dem Befehl, sich den Wagner zu widersetzen, nicht nachgekommen.

Dies, weil sie entweder überrumpelt worden oder unterlegen gewesen seien, oder aber auch, weil sie dachten, dass die Wagner auf Befehl des Kreml handelten. Wiederum andere sympathisierten gemäss Quellen mit Wagner und teilten die Kritik am russischen Verteidigungsministerium.

Was war Prigoschins Motivation für den Aufstand?

Prigoschin hatte wenige Tage nach der Rebellion dementiert, einen Machtwechsel in Moskau angestrebt zu haben. «Wir sind losgegangen, um Protest zu demonstrieren, nicht um die Obrigkeit im Land zu stürzen», beteuerte der 62-Jährige vor zwei Wochen in einer öffentlichen Stellungnahme.

Einmal mehr wiederholte er da auch seinen Vorwurf gegen das russische Verteidigungsministerium, Militärlager der Söldner beschossen zu haben. Dabei wurden seinen Angaben nach 30 Wagner-Kämpfer getötet.

Dies sei zusätzlich zur vom Ministerium angestrebten Auflösung der Wagner-Truppe der Auslöser für den Marsch Richtung Moskau gewesen, sagte Prigoschin. Er hatte, nachdem er Verteidigungsminister Sergei Schoigu den Angriff auf das Militärlager seiner Privatarmee vorgeworfen hatte, die südrussische Stadt Rostow am Don von seinen Einheiten besetzen lassen. Bei ihrem Vormarsch auf die russische Hauptstadt schossen die Wagner-Truppen mehrere Hubschrauber und ein Flugzeug ab; mehrere Besatzungsmitglieder starben.

Dass der Aufstand von Prigoschin nach den Verhandlungen mit Lukaschenko aber so plötzlich abgebrochen wurde, sorgt noch immer für Fragezeichen. Igor Sushko glaubt, dass Moskau womöglich gar nie Prigoschins letztes Ziel gewesen sei. Stattdessen sei es Woronesch-45 gewesen. Auf Twitter verbreitet er seine Theorie:

«Sobald er die Atombomben hatte, beendete er die Operationen, da alle Ziele erreicht waren.»

Dass Putin den rebellischen Prigoschin am 29. Juni – 5 Tage nach dessen Aufstand – zu einem klärenden Gespräch in den Kreml eingeladen hat, zeigt, dass er die Macht des Wagner-Chefs nicht unterschätzt.

Am Wochenende hatten auch Experten des US-Instituts für Kriegsstudien ISW darauf hingewiesen, dass die Wagner-Armee eine «potenzielle Gefahr» für «Putins Regime» darstelle. Putin habe entweder ein bemerkenswertes Vertrauen in die beteuerte Loyalität Prigoschins oder er sei unfähig, gegen die Wagner-Truppen vorzugehen, meinten die ISW-Experten. Sie gehen davon aus, dass derzeit hinter den Kulissen die Zukunft der Söldner-Armee ausgehandelt wird.

Dass dabei Nuklearwaffen eine Rolle spielen, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Doch nur schon die Tatsache, dass die Wagner-Gruppe gemäss diverser Quellen so einfach in einen Nuklearstützpunkt einmarschieren konnte, gleicht einer Machtdemonstration der Wagner-Gruppe, die Putin wohl zu denken gibt.

Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA.

Ukraine Dammbruch: So werden Mensch und Tier gerettet

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Grösste Atom-Unfälle der letzten 25 Jahre
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Grösste Atom-Unfälle der letzten 25 Jahre
6. April 1993: In der russischen Anlage Tomsk-7 werden durch einen Unfall grosse Mengen radioaktiver Stoffe freigesetzt. Auslöser war die Reinigung eines Reaktions-Gefässes mit Salpetersäure, was zu einer unkontrollierten Kettenreaktion führte.
quelle: globalsecurity.org
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Prigoschin schimpft mit russischer Militärführung und zeigt tote Wagner-Söldner
Video: watson
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15 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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rodolofo
12.07.2023 06:38registriert Februar 2016
Da hatten wir also wieder mal "Glück im Unglück".
Aber wenn man dem inzwischen völlig durchdrehenden Medwedev so zuhört, wird man sehr unsicher, wen im Russischen Reich des Bösen und der abgründigen Verlogenheit man überhaupt noch mit der Verantwortung über das russische Atomwaffen-Overkill-Arsenal betraut haben möchte...
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Martin Baumgartner
12.07.2023 07:54registriert Juni 2022
Der Wahnsinn treibt seine Blüten und der dazu passende Garten ist Russland!
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ELMatador
12.07.2023 07:44registriert Februar 2020
Fazit wir wissen nicht wirklich mehr als vorher, aber dürfen bedenkenlos noch ein bisschen mehr Angst haben, moll so kann ich in den Tag starten.

Ich befürchte, dass in diesem Agressorkrieg (RUS-UKR) und dem internen Bürgerkrieg (RUS) früher oder später ein Nuklearsprengkörper gezündet wird. Die Frage ist nur noch wann, wo, von wem und ob es absichtlich oder durch einen Fehler geschieht.
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