Im Kalten Krieg war die «Kremlologie» eine Art (Para-)Wissenschaft. Westliche Beobachter schauten tief in die Kristallkugel, um herauszufinden, was sich hinter den dicken Mauern des Moskauer Machtzentrums abspielte. Und wer in der schwer durchschaubaren Hierarchie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wie viel zu sagen hatte.
Ein Indiz waren die Paraden auf dem Roten Platz. Wo genau standen die Parteibonzen auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums? In Wladimir Putins Russland erlebt die Kremlologie ein Revival, besonders seit Beginn des Überfalls auf die Ukraine. Im Vergleich mit Putins Mafia-Staat aber war das sowjetische Politbüro ein Vorbild an Transparenz.
Das gilt erst recht für die Vorgänge seit dem mysteriösen «Aufstand» von Jewgeni Prigoschin und seiner Wagner-Gruppe. Mehr als zwei Wochen sind vergangen, seit der Söldnerführer in der Stadt Rostow am Don einmarschiert war und seine Kämpfer in Richtung Moskau weiterziehen liess. Unterwegs sollen sie mehrere Helikopter abgeschossen haben.
Rund 200 Kilometer vor der Hauptstadt (ein Katzensprung in dem riesigen Land) wurde der «Putschversuch» gestoppt. Prigoschin liess seine Truppe rechtsum kehrtmachen, angeblich auf Vermittlung des weissrussischen Diktators Alexander Lukaschenko. Westliche Medien veröffentlichten «Analysen», die so schnell veraltet waren, wie sie publiziert wurden.
Was damals genau passierte und seither geschah, überfordert selbst erfahrene Russland-Kenner. Faktisch schlägt wieder die Stunde der Kremlologen. So hiess es auf einmal, Prigoschin sei nicht in Belarus, sondern in St. Petersburg. Und am Montag wurde bekannt, dass sich der Gastro- und Militärunternehmer mit Wladimir Putin getroffen hat.
Putschist trifft Präsident: Ein solches Szenario wäre nicht einmal dem grossen Romancier Fjodor Dostojewski eingefallen, meinte die BBC sinngemäss. Die französische «Libération» hatte unter Berufung auf Geheimdienstkreise über das Treffen berichtet. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bestätigte es am Montag und sagte, es habe rund drei Stunden gedauert.
Stattgefunden hat es demnach am 29. Juni, nur fünf Tage nach jenem verrückten Samstag, als Russland an der Schwelle zu einem Bürgerkrieg zu stehen schien. Und an dem Putin in einem kurzen Fernsehauftritt Prigoschin des «Verrats» und «Dolchstosses» bezichtigte, wenn auch nur indirekt (der russische Machthaber nennt seine Widersacher nie beim Namen).
Seither haben russische Staatsmedien alles getan, um Jewgeni Prigoschin zu diskreditieren. Dazu gehörten die Enthüllungen über seinen protzigen Lebensstil, und noch am Sonntag verwies das Staatsfernsehen auf seine kriminelle Vergangenheit. Nun haben selbst Russlands Ultranationalisten Mühe, sich einen Reim auf das Treffen mit Putin zu machen.
Für westliche Beobachter gilt dies erst recht. So beschreibt der NZZ-Korrespondent in Moskau den Kontrast zwischen Prigoschins Verteufelung und der nach dem Aufstand zugesicherten Straflosigkeit mitsamt Einladung in den Kreml als «bizarr und irritierend». Offenbar wolle Putin nicht auf Prigoschin «und dessen disziplinierte Truppe» verzichten.
Hier deshalb ein Selbstversuch in Kremlologie:
Wladimir Putin ist durch den Ukraine-Krieg, offiziell weiterhin «militärische Spezialoperation» genannt, so geschwächt, dass die ruchlose Wagner-Truppe für ihn tatsächlich unentbehrlich geworden ist. Genauso wenig verzichten aber kann er auf seine ergebenen Gefolgsleute, Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow.
Sie sind Jewgeni Prigoschins «Todfeinde». Eine Version der Ereignisse lautet, er sei nach Rostow marschiert, um sie in Gewahrsam zu nehmen. Die südrussische Stadt ist die wichtigste Logistik-Drehscheibe der Armee für den Krieg in der Ukraine. Doch er «erwischte» nur Schoigus Vize und einen ranghohen General, die er in einem Video vorführte.
Während Sergei Schoigu rasch wieder auftauchte, gab es Spekulationen über eine mögliche Absetzung von Waleri Gerassimow, dem Befehlshaber im Ukraine-Krieg. Am Montag jedoch veröffentlichte der Kreml das Video einer Sitzung von Gerassimow mit anderen hohen Offizieren. Wie zu Sowjetzeiten ist aufschlussreich, wer darin zu sehen war – oder eben nicht.
Gemeint ist Sergej Surowikin, Gerassimows Vorgänger als Ukraine-Befehlshaber und Freund von Jewgeni Prigoschin. Seit dem Putschversuch ist er spurlos verschwunden. Im Video vom Montag nahm Surowikins Stellvertreter die Rolle ein, die ihm zusteht. Dient der für seine Brutalität berüchtigte General als «Bauernopfer»? Und wie geht es mit Prigoschin weiter?
Viele Fragen bleiben offen. Doch Putins Regime scheint nicht so stabil zu sein, wie seine «Versteher» gerne behaupten. Dazu passt die wirtschaftliche Lage. So wurde in den letzten Monaten nicht zuletzt von russlandfreundlichen Medien wie der «Weltwoche» das Narrativ verbreitet, die Sanktionen seien wirkungslos und würden nur dem Westen schaden.
Nun haben es Jeffrey Sonnenfeld und Steven Tian von der US-Eliteuniversität Yale im Magazin «Time» nach Strich und Faden zerlegt. Die Behauptung, Wladimir Putin könne seine Kriegskasse dank hoher Rohstoffpreise munter weiter füllen, verweisen sie ins Reich der Fabel. Denn die Preise für Öl, Gas und selbst Weizen seien heute tiefer als vor der Invasion.
Besonders effektiv sei der von den G7-Staaten verhängte Preisdeckel für Erdöl. Russland verdiene deshalb mit seinen Exporten kaum noch Geld. Als Ausgleich «kannibalisiere» Wladimir Putin die produktive Wirtschaft. Er habe drakonische «Übergewinnsteuern» auf so ziemlich alles verhängt, was sich bewegt, schreiben Sonnenfeld und Tian.
Die angebliche Resilienz der russischen Wirtschaft sei «nichts als eine potemkinsche Fassade», folgern die US-Forscher. Vielmehr erinnere die Lage zunehmend an die Zeit vor der Oktoberrevolution 1917, als Russland durch den Ersten Weltkrieg ausgeblutet war. Die Not im Land kostete Zar Nikolaus II. am Ende nicht nur die Krone, sondern den Kopf.
Ein ähnliches Schicksal muss Putin wohl (noch) nicht befürchten. Doch selbst der vom Westen sanktionierte Rohstoff-Oligarch Oleg Deripaska klagte, die «Kriegswirtschaft» des Kreml-Herrschers schade dem Land mehr als die Strafmassnahmen. Was eine reizvolle These stützen könnte, die schon am Tag des Wagner-Aufstands aufgeploppt war.
Demnach hat Jewgeni Prigoschin nicht (nur) aus eigenem Antrieb gehandelt. Hinter ihm seien Teile der russischen Elite gestanden, die genug hätten von Krieg, Misswirtschaft und Sanktionen. Also etwa Oligarchen, die wieder mit ihren Yachten durchs Mittelmeer schippern und Champagner schlürfen wollen. Echten Champagner und keinen Krimsekt.
Besonders plausibel tönt das nicht. Aber wer weiss schon, was abgeht in Wladimir Putins opakem und zunehmend verrottetem Mafia-Staat. Die Kremlologie wird weiter Konjunktur haben. Und wie das im Kalten Krieg mit der Sowjetunion ausging, ist hinlänglich bekannt.
Geiles Zeug, was der raucht...