Immer mehr Kantone führen einen Mindestlohn ein. Doch wird auch der bürgerliche Widerstand dagegen immer konkreter. Am Dienstag sprach sich die Mehrheit des Nationalrats dafür aus, dass national verbindliche Gesamtarbeitsverträge kantonalen Mindestlöhnen vorgehen. In Genf und Neuenburg hätte das zur Folge, dass Angestellte in gewissen Branchen einige Franken pro Stunde weniger verdienen als bisher. Basel-Stadt, Jura und das Tessin, die ebenfalls einen Mindestlohn kennen, wären nicht betroffen. Der Aufschrei wegen des «Angriffs auf den Föderalismus» ertönte jedoch aus vielen Kantonen, ebenso wie aus dem linken Lager.
Demgegenüber sind rechte Politiker der Ansicht, dass Mindestlöhne Jobs «vernichten» – etwa Nationalrat Marcel Dobler (FDP/SG). Was ist an dieser Befürchtung dran? Am Donnerstag präsentierte der Kanton Genf eine Studie zu den Folgen des Mindestlohnes von aktuell 24.48 Franken pro Stunde. Nicht nur der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist brisant: Auch sind die Resultate national von Interesse, weil es sich um das schweizweit höchste Lohnniveau handelt.
Die Analyse von Genfer Wirtschaftsprofessoren zeigt, dass die Einführung des Mindestlohnes im November 2020 zu keinem grösseren Stellenabbau führte – in gewissen Branchen aber die Schaffung neuer Jobs hemmte. Während sich in Sektoren wie der Coiffeurbranche oder dem Zügelwesen keine signifikativen Effekte einstellten, war das in den zwei Niedriglohnsektoren mit den meisten Beschäftigten anders: dem Gastgewerbe und dem Reinigungswesen.
So wurden in Genfer Restaurants und Hotels zwischen 2020 und 2022 zwar mehr Stellen geschaffen als im Nachbarkanton Waadt, der keinen Mindestlohn kennt. Laut der Studie wäre die Zahl der Vollzeitstellen in Genf ohne Mindestlohn allerdings noch um 3 bis 4 Prozent höher gewesen. Gleichzeitig sank das durchschnittliche Pensum. Das bedeutet: Entweder arbeiteten Kellnerinnen und Kellner von sich aus weniger, weil der Stundenlohn stieg. Oder ein Teil der Arbeitgeber kürzte Pensen, um zusätzliche Kosten abzuwenden. Das Gastgewerbe passte sich so den neuen Bedingungen an.
Eine andere Anpassungsstrategie kam im Reinigungswesen zum Zug. Während in der Waadt zwischen 2020 und 2022 ein Stellenplus von 12,6 Prozent resultierte, sank die Zahl der Putzjobs in Genf um 1,4 Prozent. Studienautor José Ramirez brachte dafür an der Pressekonferenz zwei Erklärungsansätze vor: Einerseits habe die Reinigungsbranche im internationalen Genf besonders unter dem covidbedingten Homeoffice-Boom gelitten, als es weniger Büros zu reinigen gab. Andererseits seien Putzfirmen sehr mobil und womöglich von Genf in die Waadt übergesiedelt, um keine Mindestlöhne auszuzahlen.
Davide De Filippo von der Gewerkschaft SIT nahm die Resultate erfreut zu Kenntnis: Analog zu einer früheren Genfer Studie, die sich mit der Arbeitslosigkeit befasste und ausser bei jungen Menschen keine negativen Effekte des Mindestlohnes aufdeckte, fielen die Folgen auch im Bereich der Arbeitsplätze insgesamt gering aus, so De Filippo. Das zeige, dass «der Diskurs der Rechten falsch» sei und es die Firmen schafften, den «Schock» abzufedern. An dieser Stelle schritt die Genfer Wirtschaftsdirektorin Delphine Bachmann (Mitte) ein und betonte, eine differenzierte Analyse sei wichtig.
Auch der Präsident des Genfer Gewerbeverbandes, Pierre-Alain L’Hôte, zeigte sich zurückhaltender und forderte Analysen über längere Zeiträume. Er unterstrich, dass in Branchen wie dem Coiffeurwesen jüngst vermehrt Schwarzarbeit festgestellt worden sei. Es brauche mehr Kontrollen, um die Missachtung des Mindestlohnes zu verhindern, so L’Hôte.
In einer Sache waren sich Regierungsrätin, Gewerkschafter und Arbeitgebervertreter einig: Der Genfer Volksentscheid zur Einführung des Mindestlohnes wird nicht infrage gestellt. Die Studie soll dazu dienen, Verbesserungen vorzunehmen.
Doch wird Bundesbern Genf – und andere Kantone – dabei machen lassen? Als Nächstes befasst sich der Ständerat mit der Frage, ob er Gesamtarbeitsverträge oder kantonale Mindestlöhne höher gewichtet.