Die Slogans sind so wenig vertrauenserweckend wie immer, wenn globale Firmen die Davoser Promenade mit ihren Pavillons zur Werbemeile umfunktionieren: «Our planet. Our people. All our business», «Bringing planet and profit together» oder: «Let's create something that changes everything». Dass vor der «Equality Lounge» ausschliesslich Männer sitzen und über Geschäfte und Meetings reden, passt.
Alles wie immer also, am Treffen der Mächtigen und jenen, die dazugehören möchten? Mitnichten – denn die Ukraine crasht die Party.
Das Land, das vor genau drei Monaten von Putins Armee angegriffen worden ist, dessen Städte bombardiert werden, wo Tausende Zivilistinnen und Zivilisten getötet wurden oder flüchten mussten, ist mit einem Grossaufgebot von hochrangigen Politikern, Wirtschaftsvertretern, aber auch mit Augenzeuginnen der Kriegsgräuel angereist. Und es markiert auffällige Präsenz. Das Ziel der Kampagne: die Welt aufrütteln. Hilfe einfordern. Den Wiederaufbau in die Wege leiten. Das WEF bietet der Ukraine die Plattform, das Land weiss sie zu nutzen.
Angefangen mit Präsident Selenski, der zum Auftakt per Videoschaltung die ganz grosse Bühne erhält. Er spricht von einem Wendepunkt der Geschichte. Davon, dass sein Land Geld und Waffen braucht, um sich gegen Russland zu wehren. Und dass es nicht nur darum gehe, die Ukraine zu verteidigen: Der Krieg bringe Hunger in die ganze Welt.
Im Gespräch mit WEF-Gründer Klaus Schwab erinnert er an den Alltag des Krieges: Allein am heutigen Tag seien 87 Menschen ums Leben gekommen, «die Zukunft unseres Landes fängt ohne sie an». Selenski berührt die Herzen des Publikums. Es erhebt sich zu Standing Ovations.
Nicht weniger kämpferisch treten die Klitschko-Brüder auf, Wladimir und Vitali, die ehemaligen Boxchampions. Vitali ist heute Bürgermeister von Kiew. «Es ist ein friedlicher Tag», sagt Vitali am Open Forum, dem Anlass für das gewöhnliche, nicht am WEF akkreditierte Publikum. Er deutet symbolisch in die schöne Davoser Berglandschaft: «Es ist Frühling, die Sonne scheint, alle haben Pläne für die Ferien.» Pause. «Doch gleichzeitig sterben nur wenige tausend Kilometer von hier Menschen, Kinder, Frauen, Alte, Junge.»
Es folgen 45 Minuten, in denen die beiden Brüder dem Publikum ins Gewissen reden. Sie fordern die Schweiz auf, die russischen Propagandasender abzustellen. Vom IOC, das seinen Sitz in der Schweiz hat, dass es alle russischen Athleten ausschliesse: «Wir haben nichts gegen die Sportler. Aber sie repräsentierten Putins Regime.» Ein paar Fragen, dann eilen sie weiter, begleitet von Bündner Kantonspolizisten.
Das Herzstück der ukrainischen Kampagne findet sich jedoch weder im Kongresszentrum noch am Open Forum. Es ist das «Russian War Crimes House», das ehemalige «Russian House» an der Promenade, eingeklemmt zwischen Business-Pavillons. Hier geben sich die Offiziellen aus Kiew und ihre Unterstützer aus dem Westen die Klinke in die Hand.
Gerade hat der lettische Präsident, Egils Levits, das «Russian War crimes House» verlassen. Ob die Schweiz Waffenlieferungen aus eigener Produktion an die Ukraine liefern solle, sei ihre Sache, sagt er.
Aber: «Russland hat mit dem aggressiven Krieg die UNO-Charta von 1945 in flagranter Weise verletzt. Alle UNO-Mitgliedsstaaten sind verantwortlich dafür, dass Russland gestoppt wird und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.» Und die Neutralität, sagt Levits weiter, sei «ein zeitabhängiger Begriff. Vor hundert Jahren bedeutete Neutralität vielleicht etwas anders als im 21. Jahrhundert.»
Dann tritt der Vizepremierminister der Ukraine hinzu, Mykhailo Fedorov. «Es ist meine erste Geschäftsreise seit Kriegsausbruch, es ist ein sehr eigenartiges Gefühl hier. Ich bin fünfmal in der Nacht aufgewacht, weil es hier so viel ruhiger ist als in der Ukraine.»
Sonst sagt er wenig zum Krieg. Lieber redet er über den Wiederaufbau seines Landes und die digitale Transformation der Ukraine. Als wäre der Krieg schon gewonnen.
Das dem noch nicht so ist, zeigt sich im Innern des «Russian War Crimes House». An den Wänden hängen Bilder von Kriegsopfern, auf einem grossen Bildschirm läuft ein Video in Endlosschlaufe mit Sequenzen offensichtlicher Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Es ist kaum zu ertragen. Auf einer Karte sind die Tatorte bezeichnet. Der Hinweis fehlt nicht: Noch sind nicht alle Verbrechen bekannt.
Hier ist Evgeniy Maloletka. Ein junger Mann, schwarzes T-Shirt, dunkler Kittel, Turnschuhe, ungekämmtes Haar. Und ein sehr trauriger Blick. Er erzählt, was er gesehen hat, am 9. März in Mariupol, als er jene Fotografie gemacht hat, die sinnbildlich steht für die Grausamkeit dieses Krieges: Das Bild einer schwangeren Frau, die von Rettern auf einer Trage aus dem von Bombenangriffen beschädigten Spital gebracht wird. Und die, wie wir heute wissen, wenig später an den Verletzungen gestorben ist. Zusammen mit ihrem ungeborenen Kind.
Evgeniy erzählt mit leiser Stimme. Wie er ein Massenbegräbnis auf einem Friedhof im Zentrum Mariupols dokumentierte. «Da waren so viele Leichen von Menschen, die im Spital gestorben sind. Es war schockierend.»
Vom Geräusch eines Flugzeugs, das über sie hereinzog, und mehreren «grossen Explosionen» wenig später. Evgeniy schildert, wie er mit seinem Kollegen, dem Videojournalisten Mstyslav Chernov, in den 13. Stock eines Hochhauses stieg und feststellte, wo die Einschläge waren: «Beim Spital.» Die Reporter begaben sich vor Ort.
«Alles war zertrümmert. Bäume lagen herum, Menschen kamen aus dem Schutzraum ins Freie.» Und dann brachten Retter die verletzte Frau aus dem Spital: «Ich sah, dass sie noch lebte, sie hat sich bewegt, hatte aber eine grosse Wunde, vermutlich von Glassplittern.»
Zur russischen Version, dass sich im Spital ukrainische Truppen verschanzt hätten, sagt Evgeniy: «Das ist nicht wahr.» In dem ganzen Spitalkomplex gebe es mehrere Kliniken, «eine diente als Militärspital, aber nicht als Stützpunkt».
Überprüfen lässt sich das nicht. Doch Evgeniy schildert die Abläufe detailliert und so realistisch, als würde in seinem Kopf der Film nochmals ablaufen. Jenen Film, den sein Kollege Chernov auf Video festgehalten hat. Nach Davos sei er als Augenzeuge der Kriegsverbrechen von Mariupol gekommen. «Wir haben viele schlimme Dinge gesehen. Hier können wir unsere Reportagen zeigen.» Und das ändert was? «Jede Begegnung, jeder Mensch, der hier sieht, was in der Ukraine passiert, kann etwas ändern.» (bzbasel.ch)
Das WEF hätte die Möglichkeit gehabt etwas weniger Party zu sein, dafür ein Ort von dem machbare Lösungen hätten ausgehen können. So gesehen ist das WEF eine verpasste Chance mit oder ohne Crash.