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Ukraine

Selenskyj an Uni Zürich: Die Schweiz soll ihre Neutralität aufgeben

Volodymyr Selenskyj spricht am Europa Institut an der Universität Zürich
Wolodymyr Selenskyj an der Universität Zürich.Bild: Watson

Selenskyj an Uni Zürich: «Die Neutralität der Schweiz ist nicht mehr zeitgemäss»

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Donnerstagabend eine Rede am Europa Institut an der Universität Zürich gehalten. Nebst gewohnt hoffnungsvollen Nachrichten richtete er klare Wünsche an die Schweiz.
29.09.2022, 22:1230.09.2022, 12:36
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Die Stimmung im Hörsaal ist aufgeheizt. Während die einen schon sitzen und in allen möglichen Sprachen miteinander diskutieren, strömen weiterhin Zuschauerinnen und Zuschauer in den Saal. Das Publikum ist jung, studentisch und auch erstaunlich ukrainisch – immer wieder hört man Gespräche in Selenskyjs Landessprache.

Der Andrang ist gross. Der Uni-Hörsaal ist fast gefüllt.
Der Andrang ist gross. Der Uni-Hörsaal ist fast gefüllt.Bild: Watson

Andreas Kellerhans, Direktor des Europa Instituts an der Universität Zürich, betritt das Rednerpult und gibt gleich das Wort an den ukrainischen Botschafter in der Schweiz weiter.

Dieser beginnt mit einem «Slava Ukraini!», welchem der Saal ein «Heroyam Slava!» entgegnet. Also «Ruhm der Ukraine» und «Ruhm den Helden». Es ist ein eindrücklicher Moment, der aufzeigt, wie wohlwollend das Publikum gegenüber der Ukraine ist.

«Die Frage ist: Kämpfen wir oder fliehen wir?»
Wolodymyr Selenskyj

Nach einer kurzen Ansprache wird der Mann, auf den alle gewartet haben, zugeschaltet. Auf der Leinwand erscheint Präsident Wolodymyr Selenskyj, gekleidet in einem schwarzen «I’m Ukrainian»-Kapuzenpullover. Zwei grosse Ukraine-Flaggen flankieren ihn. Er lächelt, gestikuliert und redet freundlich in die Kamera – doch leider hört man ihn nicht. Ein enttäuschter Seufzer geht durch den Saal.

Nach einer guten Minute kann man die Panne beheben, die Tonverbindung steht. Kellerhans begrüsst ihn und nennt ihn einen Kriegshelden, einen grossen Anführer, eine Legende; er vergleicht ihn gar mit Winston Churchill.

Gespannt hört das Publikum dem Präsidenten zu.
Gespannt hört das Publikum dem Präsidenten zu.Bild: Watson

Selenskyj nimmt den Steilpass gekonnt an und gibt das Lob an seine Landsleute weiter. Es gehe nicht um ihn, sie seien die wahren Helden. Er zeigt, einmal mehr, dass er ein brillanter Kommunikator ist. Während des ganzen Events meistert der Präsident es, die Zuhörerschaft auf seine Seite zu ziehen. Sei es mit präzise eingesetzter Komik oder mit bodenständigen Aussagen.

Schweiz soll Neutralität aufgeben

Da der Ton schon wieder spukt, schlägt Selenskyj vor, zuerst mit den Publikumsfragen anzufangen. Es wird gefragt, welche drei Dinge der Präsident sich von der Schweiz gerne wünscht.

Die erste Antwort wird schon wieder vom Ton abgeschnitten, doch die nächste lässt aufhorchen: Nebst dem weiteren Einfrieren von russischen Vermögen sei es doch nun an der Zeit für ein Umdenken in der Schweiz. «Obschon die Schweiz eine lange Tradition der Neutralität hat, ist diese einfach nicht mehr zeitgemäss», so Selenskyj. Es sei eine Frage, ob man sich auf die Seite von Gut oder Böse stellen wolle.

Jemand fragt, ob die russische Regierung oder die russischen Bürger am Krieg schuld seien. «Irgendjemand hat die Regierung ja einmal gewählt. Wer solche Leute wählt, weiss um die Risiken Bescheid», so Selenskyj. «Vielleicht bin ich blind, aber ich sehe niemanden in Russland auf der Strasse, wenn Putin mit Atomwaffen droht.» Daher treffe die russischen Bürger sehr wohl eine Mitschuld.

Im Publikum sitzt auch der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr. Er will vom Präsidenten wissen, wie er in diesen harten Zeiten immer so optimistisch bleibe. Selenskyj erwidert, dass er immer wieder von seinen Mitmenschen inspiriert werde. Er sei zudem froh, dass die Welt geeint die Demokratie verteidigen möchte. Auch unser Lächeln auf seinem Bildschirm gebe ihm Hoffnung.

Keine Zeit für eigentliche Rede

Der Präsident beantwortet weiter mit ernster Miene und gelegentlichem Humor Fragen. Nein, er sorge sich nicht um die ukrainische Online-Infrastruktur. Man habe in den letzten Jahren die Digitalisierung immens vorangetrieben und arbeite mit Top-IT-Spezialisten zusammen.

Nein, die Scheinreferenden haben keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf, nun sei allerdings die letzte Chance auf eine diplomatische Lösung verloren gegangen. Auf die Frage, wo er nach dem Krieg als Erstes in die Ferien gehen will, antwortet er: «Nach Hause.» Und erntet dafür wieder zünftigen Beifall.

Volodymyr Selenskyi spricht am Europa Institut an der Universität Zürich
Standing Ovations für den Mann der Stunde, Präsident Selenskyj.Bild: Watson

Nach all den Fragen bleibt keine Zeit mehr für das Thema des eigentlichen Vortrags. In zwei, drei Sätzen schildert Präsident Selenskyj die Kernaussagen: «Wir können nur vereint kämpfen – sei es gegen eine Pandemie oder einen Aggressor.» Es sei wichtig, Länder vor Angriffen autokratischer Herrscher zu verteidigen.« Wer sich nicht ändern will, den muss man ändern.»

Nach einer Zusage, IT- und Tonspezialisten in die Schweiz zu schicken, beendet der Präsident den Anlass mit einem Wunsch: «Ich hoffe, dass wir in der Ukraine so frei leben können wie in der Schweiz.»

Der 24-jährige Germanistikstudent Louis beklagt sich nach dem Event: «Es ist schade, dass keine Zeit für den eigentlichen Vortrag blieb. Und die technischen Pannen seitens der Uni Zürich sind einfach nur peinlich.»

Für Anna und Cedric, 20- und 21-Jährig, war der Anlass trotzdem gelungen: «Wir sind nur gekommen, um Präsident Selenskyj einmal selber zu erleben.»

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263 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tanuki
29.09.2022 22:45registriert März 2014
Ich verstehe die Position von Herrn Präsident Selenskyj sehr gut. Er kämpft für sein Land zurecht und sucht so viele Verbündete wie er nur kann. Die Schweiz kann und soll die Ukraine humanitär dabei unterstützen. Flüchtlingen helfen, lebensnotwendige Mittel in die Ukraine senden etc. Wir sind aber keine Kriegspartei. Wir sanktionieren Russland auf der Basis des Völkerrecht . Als Nation bleiben wir neutral. Möchten wir das ändern muss zuerst das Volk befragt werden.
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kleine_lesebrille
29.09.2022 22:56registriert Mai 2022
Herrn Selenskyj’s Wunsch, wonach die Schweiz die Neutralität aufgeben soll, mag zwar verständlich sein, aber es ist eine Forderung „aus dem Moment heraus“.

Die Neutralität der Schweiz ist „immerwährend“, denn sie ist einer der wichtigsten Grundsätze der CH-Außenpolitik, seit mehr als 200 Jahren.

Auch wenn die Neutralität a) aktuell im Inland diskutiert wird, b) Bundespräsident Cassis Mühe mit der Definition des Begriffs bekundet und c) Alt-BR Blocher meint, uns neutralitäspolitisch ins Jahr 1815 zu katapultieren, so wird unsere Neutralität auch die aktuelle Krise überdauern.
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Liebu
29.09.2022 22:54registriert Oktober 2020
Interessant,
Selenskyj sagt, die Schweiz sei Neutral und sollte es nicht mehr sein.
Blocher sagt, die Schweiz sei nicht Neutral und sollte es wieder sein.
Die Schweiz ist Neutral und wird Neutral wahrgenommen, ausser von einer Partei im Inland und einer im Ausland. 🤷‍♂️
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