Das neue Jahr begann mit einer Art Sternstunde: Am 3. Januar landete erstmals eine Sonde auf der «dunklen» Seite des Mondes. Es war ein Coup für das chinesische Raumfahrtprogramm. Fast genau 40 Jahre nach Beginn der Reformpolitik unterstrichen Chinas Kommunisten ihren Anspruch, in Wirtschaft und Technologie zur führenden Weltmacht aufzusteigen.
In den Medien war die Rede von einem neuen Sputnik-Moment. Gemeint ist der erste künstliche Erdsatellit, den die Sowjetunion 1957 ins All befördert hatte. Auch dies war ein Coup, der den Westen und besonders die USA in Aufregung versetzte. Und den Wettlauf zum Mond lancierte.
Und heute? Die «Mondlandung» zeigt, dass China längst nicht mehr (nur) das aufstrebende Land ist, das die Welt mit billiger Ware überschwemmt. Sondern sich zu einer ernstzunehmenden Hightech-Nation entwickelt, die besonders bei der Künstlichen Intelligenz rasante Fortschritte macht. Dies wurde durchaus zur Kenntnis genommen, mehr aber nicht.
Denn der Westen ist zu Beginn dieses Jahres mit sich selbst beschäftigt.
Die USA sind durch in einen bizarren Streit um eine «Mauer» an der Grenze zu Mexiko blockiert. Präsident Donald Trump und die Demokraten haben sich in ihren Positionen eingegraben und nehmen einen teilweisen Stillstand der Bundesverwaltung in Kauf. Der Shutdown dauert schon mehr als 20 Tage und schadet zunehmend der Wirtschaft.
In Grossbritannien bahnt sich ein noch gröberes Desaster an. Das Königreich steuert auf einen ungeregelten Austritt aus der Europäischen Union am 29. März zu. Die Wirtschaft warnt vor gravierenden Auswirkungen, doch das politische Establishment hinterlässt einen heillos überforderten Eindruck. Mit dem Brexit vor Augen wirkt das stolze Britannien wie gelähmt.
«Während die Chinesen auf der Rückseite des Mondes landen, nageln sich USA wie Grossbritannien die eigenen Füsse auf der Erde fest», heisst es in einer Analyse der Tamedia-Zeitungen. Die Schweiz allerdings macht es keinen Deut besser. Sie ist offenbar bereit, sehenden Auges in einen Konflikt mit ihrem wichtigsten Handelspartner hineinzulaufen.
Die Debatte um das Rahmenabkommen mit der EU verläuft vielleicht ein wenig zivilisierter als die wüsten Streitereien in Grossbritannien und den USA. Aber sie ist nicht weniger irrational. Man schwadroniert über Nachverhandlungen und redet die Konsequenzen eines Scheiterns klein. Es werde «ein bisschen schütteln», meinte SP-Präsident Christian Levrat am Montag vor den Medien.
Anderswo gibt der Westen ebenfalls Anlass zur Sorge. In Frankreich gefährden die Proteste der «Gilets Jaunes» die Reformpolitik von Präsident Emmanuel Macron. In Italien und anderen Ländern sitzen Populisten und Nationalisten an den Schalthebeln der Macht. Und Deutschland droht vor lauter Selbstzufriedenheit über seine Exporterfolge den Anschluss an die Zukunft zu verpassen.
Im Westen herrscht derzeit eine toxische Mischung aus Überheblichkeit und Selbstbezogenheit, gepaart mit der Hoffnung, es komme schon irgendwie gut. Während hungrige Aufsteiger wie China vollendete Tatsachen schaffen, träumt man von der Rückkehr zu alter Grösse.
Mit «Make America Great Again» hat Donald Trump 2016 die Wahl gewonnen. Seine Rezepte sind Handelskriege und die Förderung abgetakelter Wirtschaftszweige wie der Kohlebranche. Die Brexit-Hardliner schwelgen in imperialen Fantasien. Für sie wartet die Welt nur darauf, mit dem Königreich Handelsverträge abzuschliessen, wenn es von den «Fesseln» der EU befreit ist.
Diese Selbstüberschätzung ist paradox. Indien hat auf die Avancen der einstigen Kolonialmacht bislang kühl reagiert. Auch die Chinesen haben ihre Demütigung durch das Empire nie vergessen. Es hatte sie im ersten Opiumkrieg in den 1840er Jahren besiegt und ihnen den Drogenhandel aufgezwungen. Für die stolze Weltmacht China war es der Beginn eines dunklen Zeitalters.
Nun will sie dorthin zurück, wo sie gemäss ihrem Selbstverständnis hingehört: An die Spitze. So strebt es Staatspräsident Xi Jinping mit seiner Agenda «Made in China 2025» an.
Sie ist den USA ein Dorn im Auge. Donald Trump zielt mit seinen Strafzöllen nicht nur auf die chinesischen Handelsüberschüsse, sondern auch auf die Bestrebungen im Technologiesektor. Die Chinesen sind nicht mehr nur Kopisten, sondern entwickeln im Bereich der Künstlichen Intelligenz immer mehr eigene Innovationen, womit sie die Dominanz des Silicon Valley herausfordern.
Muss man sich also mit den Niedergang des Westens abfinden? Wird das 21. Jahrhundert definitiv ein asiatisches? Müssen wir Chinesisch lernen? Nicht unbedingt. Die neue Weltordnung ist multipolar, ohne klaren Dominator. Denn die Chinesen kochen auch nur mit Wasser. Bei ihnen ist manches oft mehr Schein als Sein. So konnte der Genforscher He Jiankui bislang nicht den geringsten Beweis für seine angeblichen Manipulationen an zwei Embryos erbringen.
Ein weiteres Problem ist die Systemfrage. China hat sich der politischen Öffnung verweigert. Der Westen schaut teilweise bewundernd auf die Möglichkeit des autoritären Staates, Dinge ohne lästige Opposition sehr schnell zu realisieren. Die Kehrseite eines Systems ohne Checks and Balances aber sind Korruption und Verantwortungslosigkeit. Man kann sich fragen, ob das gut gehen wird.
Der Westen hat keinen Grund, sich von China ins Bockshorn jagen zu lassen. Das demokratische System hat nicht ausgedient. Allerdings muss er zur Einsicht gelangen, dass Nostalgie nach der vermeintlich guten alten Zeit und Selbstbezogenheit keine Rezepte für die Zukunft sind. Es gilt, die Kräfte zu bündeln und mit- statt gegeneinander zu arbeiten.
Dem chinesischen Expansionsstreben darf man dabei ruhig mit mehr Selbstbewusstsein und weniger Unterwürfigkeit begegnen. Das gilt etwa für die Übernahme westlicher Firmen. Gerade die Schweiz verhält sich in dieser Hinsicht blauäugig. Xi Jinpings Bekenntnis zum Freihandel am Davoser WEF 2017 war angesichts seines eigenen Protektionismus ziemlich heuchlerisch.
Chinas Mondmission erzeugt Bewunderung. Wer hinter dem Mond lebt, verpasst jedoch den Anschluss an die Zukunft. Der Westen kann beweisen, dass es anders geht. Wenn er will.