Herr Niffeler, warum berührt der Brand der Notre-Dame Menschen auf der ganzen Welt?
Urs Niffeler: Einerseits ist die Kathedrale weltbekannt. Viele Menschen haben Paris bereits einmal besucht und können sich so persönlich an den wunderschönen Bau erinnern. Andererseits hat die Notre-Dame auch einen grossen ideellen, geistesgeschichtlichen und künstlerischen Wert.
Was meinen Sie konkret mit ideellem Wert?
Bauten wie der Notre-Dame oder die Stätten in Palmyra, die teilweise vom «IS» zerstört wurden, stellen eine Verbindung zu unserer Vergangenheit dar. Sie sind Quellen unserer Identität. Mit der Beschädigung oder Zerstörung solcher Bauwerke wird diese Verbindung geschwächt oder ganz getrennt.
Also sind Bauten wie die Notre-Dame mehr als nur teure Gebäude?
Auf jeden Fall. Kulturgüter haben seit Menschengedenken eine wichtige Funktion für die Gesellschaft. Sie sind eben nicht nur toter Stein. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob diese Rückbesinnung auf historischen Tatsachen beruht oder nur ein Konstrukt der Gegenwart ist. Die Rütliwiese hat für viele Schweizer heute einen klaren Nationalcharakter, egal ob sich dort vor 700 Jahren drei Männer getroffen haben oder nicht.
In welchem Verhältnis steht nun der Brand in Paris mit den Ruinen in Palmyra?
Die Kathedrale besticht neben dem historischen Wert durch ihre offenkundige Schönheit. Viele Besucher werden von der Innenausstattung oder vom Gewölbe beeindruckt gewesen sein, als sie diese zum ersten Mal sahen. Solche Gefühle hallen nach dem Besuch nach und können durch die Neuigkeit, dass Notre-Dame beschädigt wurde, wieder ins Bewusstsein treten. Die Ruinen in Palmyra haben wohl die wenigsten Europäer je besucht; sie sind zumeist «nur» durch die Medien präsent geworden.
Ist diese Verliebtheit in die eigene Vergangenheit ein europäisches Phänomen oder gibt es das weltweit?
Ich würde nicht sagen, dass das Interesse nur in Europa stark ist. Auf der ganzen Welt werden Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende alte Kulturstätte gepflegt und geschützt. Ich denke dabei zum Beispiel an Machu Picchu in Peru oder an die chinesische Mauer. Auch in den USA, wo man noch nicht auf eine längere europäisch geprägte Geschichte zurückblicken kann, gibt es indianische Siedlungen aus der Zeit zwischen 700 und 1300, die rege besucht werden.
Der französische Präsident Emmanuel Macron will die Kathedrale innert fünf Jahren wiederaufbauen. Halten Sie das für einen realistischen Zeitplan?
Es ist schwierig, die Dauer des Aufbaus einzuschätzen. Einerseits kommt es darauf an, wie viel Ressourcen man bereit ist zu verwenden. Andererseits kann man auch nicht einfach 2000 Arbeiter einsetzen, die sich schliesslich auf der Baustelle auf den Füssen stehen würden. Die Restauration wird viel Handarbeit erfordern, deshalb ist das Ausmass bisher kaum abzuschätzen.
Nun sagen Kritiker, es gebe doch Wichtigeres, als eine Jahrhunderte alte Kirche zu restaurieren. Zum Beispiel den Klimawandel.
Ich finde es immer müssig, wenn man zwei wichtige, berechtigte Anliegen gegeneinander ausspielt. Natürlich ist der Kampf gegen den Klimawandel wichtig. Die Zerstörung des Dachs von Notre-Dame hat aber ebenso tiefe Spuren in der französischen Gesellschaft hinterlassen. Man sollte nicht Ja zum einen und Nein zum anderen sagen müssen.
Bereits als das Dach noch brannte, versprachen mehrere französische Milliardäre bereits Spenden in Millionenhöhe. Eine solche Unterstützung lässt der Kampf gegen den Klimawandel vermissen, klagen Klimaschützer.
Positiv interpretiert zeigt sich darin die alte patronale Verhaltensweise, dass man spendet, wenn es nötig ist – und natürlich der berechtigte Stolz vieler weiterer Menschen in Frankreich über ein bedeutendes Monument. Aber klar: Das Engagement nach einer solchen Katastrophe stellt die Spender durchaus in ein positives Licht. Doch wenn dabei etwas Gutes herausschaut, warum nicht. Es bringt hier nichts, diese Thematik mit dem Klimawandel zu konfrontieren.
God bless the people of France!
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) 15. April 2019
Trotzdem dürfte die Verbundenheit zu alten Gebäuden in Europa grösser sein als in den USA. Oder nicht?
In Europa sind die Wege zu einem solchen Bau einfach kürzer. Natürlich hat dies einen Einfluss darauf, wie stark das Interesse an Archäologie und Kulturgeschichte im Allgemeinen ist. Dennoch gibt es Archäologie auf der ganzen Welt. Das Phänomen des Interesses an der eigenen Vergangenheit ist ein allgemein menschliches.
Obwohl diese Vergangenheit nicht immer nur schön war.
Natürlich. Auch die Notre-Dame wurden Ressourcen verwendet, die wohl zum Teil unter unschönen Umständen beschafft wurden. Bezahlt wurde das ganze von Allen, die Kirchensteuer bezahlen mussten – und natürlich von Menschen, die spendeten, nicht zuletzt, um beim Jüngsten Gericht auf ihre positiven Taten verweisen zu können. Für uns heute steht Notre-Dame aber nicht primär für die Ausbeutung der Menschen im Mittelalter, sondern für künstlerische, ideologische und technische Brillianz – vergessen wir nicht die Entwicklung, die Frankreich in der Zwischenzeit durchgemacht hat!
Sie haben in diesem Zusammenhang von einer wichtigen Funktion für die Gesellschaft gesprochen, die Kulturgüter heute ausüben. Können Sie dies noch etwas konkretisieren?
Kulturgüter sind Kristallisationspunkte für die Gesellschaft. Egal welches Geschlecht, welcher Bildungsabschluss oder welche Herkunft ein Franzose hat, jeder kennt die Notre-Dame. Menschen, die sonst nur sehr wenig miteinander zu tun haben, kommen so zusammen und verstehen sich als Mitglieder eines grösseren Ganzen, etwa eines Staates.
Also könnte der Brand auch positive Effekte haben?
Ja, so morbide es auch klingen mag. Brände wie dieser haben schon öfters zu gewaltiger Mobilisation geführt. Als Beispiel könnte man den Wiederaufbau der Stadt Lissabon nach dem Erdbeben vom 1. November 1755 nennen, einer der verheerendesten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte, auch wenn er teils mit harten Zwangsmassnahmen erfolgte. Ob Frankreich wieder näher zusammenrückt, wird man sehen; jedenfalls gingen bereits enorm viele Spenden ein.
Eine negative Folge der ideellen Aufladung solcher Stätten hat auch die Auseinandersetzung mit dem «IS» gezeigt. Dieser hat ja direkt vom Verkauf illegal ausgegrabener Kulturgüter profitiert.
Ich wünschte es wäre nicht so, aber ja. Es war so, dass der «IS» Kulturgüter ausgegraben und in alle Welt verkauft hat. Die Käufer haben es damit in Kauf genommen, dass sie faktisch die Terrororganisation unterstützt haben. Auf einer völlig anderen Ebene stehen Zerstörungen wie jene des Baaltempels in Palmyra oder der Buddhastatuen in Bamiyan: Die Zerstörung war in hohem Mass eine Machtdemonstration, wenn auch mit religiösem Mäntelchen. Die Botschaft lautete «ihr Westler könnte nichts ausrichten, wenn wir beschliessen, etwas von Euch hoch geschätztes zu zerstören – spürt Eure Ohnmacht!».
Was lässt sich dagegen tun?
Beim Handel mit Kulturgütern muss man auch bei den Käufern ansetzen. Solange eine Nachfrage besteht, wird sie befriedigt. Neben der Bekämpfung des illegalen Kunsthandels müsste man also das Sozialprestige des Besitzes solcher Werke beseitigen und den Kauf mit schändlichem Handeln konnotieren. Wenn die Nachfrage nach solchen Objekten sinkt, schwindet der Markt dafür.
Oder dann noch diejenigen, welche immer wieder sagen, dass man dieses Geld für andere Projekte besser hätte ausgeben können.
Nun, die Spender wollen aber in diesem Fall ihr Geld für den Aufbau von Notre-Dame verwendet sehen. Damit muss man nun leben - ob man es gut findet oder auch nicht.