Entsetzt mussten die Pariser am Abend des 15. April zusehen, wie immer höhere Flammen aus dem Dach der Notre Dame schlugen. Die berühmte Kathedrale, noch vor dem Eiffelturm die meistbesuchte Sehenswürdigkeit der französischen Hauptstadt, wurde vom Feuer schwer beschädigt. Immerhin konnten die Fassaden und die beiden Glockentürme gerettet werden; die Hauptstruktur des Bauwerks blieb weitgehend intakt.
Wie indes die Bilanz bei den unbezahlbaren Kunstgegenständen aussieht, die Teil der Kathedrale sind oder in ihr aufbewahrt werden, wird sich wohl erst in den nächsten Tagen genauer zeigen. Soviel ist aber derzeit sicher: Der Kirchenschatz der Notre Dame hat das Inferno unversehrt überstanden.
Une bonne nouvelle : toutes les œuvres d’art ont été sauvées. Le trésor de la cathédrale est intact, la couronne d’épines, les saints sacrements. #NOTRE_DAME
— Nicolas Delesalle (@KoliaDelesalle) 15. April 2019
Es waren Mitglieder des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem, die die wertvollen Objekte aus dem Anbau der Kirche holten. Ohnehin erreichte das Feuer diesen Anbau offenbar nicht.
Der ursprüngliche Kirchenschatz, dessen älteste Bestände aus dem Jahr 1343 stammten, war einer der reichsten in ganz Frankreich, bevor er während der Französischen Revolution 1789 zerstört wurde. Kein einziges Objekt aus diesem alten Schatz überstand die Wirren der Revolution. Mehrere Reliquien, die angeblich von der Passion Christi stammen, waren jedoch in der Sainte Chapelle aufbewahrt worden und entgingen der Vernichtung. Sie wurden 1804 in die Notre Dame gebracht und bildeten die Grundlage für den neuen Kirchenschatz.
Dies sind die bedeutendsten Objekte aus dem Kirchenschatz:
Die wichtigste Reliquie des Kirchenschatzes ist die Couronne d’épines (Dornenkrone), die Jesus angeblich kurz vor seiner Kreuzigung aufgesetzt wurde. König Louis IX. (1214-1270) erwarb sie 1237 vom Kaiser in Konstantinopel und brachte sie 1239 nach Paris, wo sie zunächst in der Notre Dame aufbewahrt wurde, bevor sie in die eigens errichtete Sainte Chapelle kam. Nach der Revolution kam die Reliquie zurück in die Kathedrale. Seit 1896 wird die Dornenkrone in einer kostbaren Hülle aus Kristall und Gold aufbewahrt.
Der französische König, der später heiliggesprochen wurde, brachte die Dornenkrone barfuss und im Büssergewand nach Paris. Dieses Kleidungsstück gehört ebenfalls zu den Schätzen, die in der Notre Dame aufbewahrt wurden. Das Gewand wurde kurz nach dem Ausbruch des Brands aus der Kirche geholt.
Ein Splitter vom Kreuz, an dem Jesus Christus starb, und ein Nagel, der angeblich den göttlichen Leib durchbohrt hatte, sind ebenfalls Teil des Kirchenschatzes.
Die Monstranz stammt aus der ehemaligen Kirche Saint Geneviève, die kurz nach ihrer Fertigstellung während der Revolution profanisiert wurde und heute als Panthéon bekannt ist. Seit 1894 befindet sie sich im Kirchenschatz.
Neben dem eigentlichen Kirchenschatz sind auch weitere wertvolle Kunstgegenstände unversehrt geblieben oder konnten rechtzeitig gerettet werden:
Ein glücklicher Zufall rettete die 16 Kupferstatuen bei der Turmspitze. Sie wurden nur vier Tage vor dem Brand in einer aufwändigen Aktion von der Turmspitze geholt, um sie in Südfrankreich restaurieren zu lassen. Die Statuen stammen aus dem Jahr 1860 und stellen die zwölf Apostel und die vier Evangelisten dar.
Die Altarverzierung konnte in Sicherheit gebracht werden. Sie umfasst unter anderem ein Kreuz mit sechs Kerzenleuchtern, und zwei grosse Kerzenhalter. Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, twitterte ein Bild, auf dem einige der geretteten Gegenstände zu sehen sind:
Merci aux @PompiersParis, aux policiers et aux agents municipaux qui ont réalisé ce soir une formidable chaîne humaine pour sauver les œuvres de #NotreDame. La couronne d'épines, la tunique de Saint Louis et plusieurs autres œuvres majeures sont à présent en lieu sûr. pic.twitter.com/cbrGWCbL2N
— Anne Hidalgo (@Anne_Hidalgo) 15. April 2019
Zu den geretteten Kunstwerken zählen einige Gemälde, darunter «La Vierge de Piété» von Lubin Baugin, «Vierge à l’enfant» und «La Vierge noire de Czestochowa».
Die Glocken der Kathedrale befinden sich in den beiden vom Feuer verschonten Glockentürmen und nahmen daher keinen Schaden. Bekannt ist vor allem die Glocke «Emmanuel», die den Ruf geniesst, die wohlklingendste Glocke Frankreichs zu sein. 1944 läutete sie, um das Ende der deutschen Besetzung zu verkünden. Sie ist mit ihrem Gewicht von 23 Tonnen zugleich die grösste der zehn Glocken der Kathedrale.
Die Sakristei, in der wertvolle Goldschmiedearbeiten aufbewahrt werden, blieb vom Feuer verschont. Die Feuerwehrleute liessen diese Kunstgegenstände deshalb an ihrem Ort.
Die drei riesigen Rosetten der Kathedrale, die die Blumen des Paradieses darstellen, wurden im 13. Jahrhundert konstruiert und danach mehrmals restauriert. Das Glasfenster auf der Westseite hat einen Durchmesser von 10 Metern, jenes auf der Südseite misst 12,9 Meter und das grösste auf der Nordseite sogar 13,1 Meter. Vermutlich haben zumindest die Nord- und Südrosette den Brand überstanden, wenn sie auch völlig verrusst wurden.
Ah merci :) car depuis ce matin je zoome sur les photos en disant “si on voit quelquechose entre la pierre c’est que les vitaux sont toujours là..” .... pour la lumière colorée, le silence et l’odeur https://t.co/7Jjv8wVfff
— Cécile Duflot (@CecileDuflot) 16. April 2019
The rose window is still standing!#NotreDameFire pic.twitter.com/qZZCukRbKN
— Gissur Simonarson (@GissiSim) 16. April 2019
Die Hauptorgel von Aristide Cavaillé-Coll, die erst zwischen 2012 und 2014 aufwändig restauriert wurde, befindet sich auf der Westempore; sie ist mit ihren knapp 8000 Pfeifen eine der grössten und bekanntesten der Welt. Konstruiert wurde sie von 1863 bis 1868, wobei ältere Teile aus dem 18. Jahrhundert und noch ältere Pfeifen weiterverwendet wurden. Es ist noch unklar, wie stark die Orgel beschädigt wurde. Der stellvertretende Bürgermeister Emmanuel Gregoire sagte, sie sei nahezu unbeschädigt. Andere Quellen bezeichneten sie als stark beschädigt.
Der Altar ist vermutlich zumindest zum Teil erhalten geblieben. Das Kreuz und die Statuen – die Figurengruppen stellen die Kreuzabnahme und die Grablegung dar – erscheinen auf Aufnahmen nach dem Brand noch intakt.
Dans la nef, encombrée par les restes de la flèche en miettes, l’autel est resté intact, avec sa croix#NotreDame pic.twitter.com/yify3ERdN0
— Raphaelle Bacqué (@RaphaelleBacque) 15. April 2019
Zwischen 1630 und 1707 stiftete die Zunft der Goldschmiede der Notre Dame jedes Jahr zum 1. Mai ein Gemälde zu Ehren der Jungfrau Maria. Von diesen grands Mays genannten Gemälden waren derzeit 13 in den Seitenkapellen des Längsschiffs ausgestellt. Hinzu kamen zwei weitere Gemälde, die im Hauptschiff ausgestellt waren. Die Gemälde sollen laut dem französischen Kulturminister Wasserschäden aufweisen. Möglich ist auch, dass der Rauch sie verschmutzte. Sie sollen zur Restauration ins Louvre-Museum gebracht werden.
Die erste Turmspitze wurde 1250 konstruiert, aber Ende des 18. Jahrhunderts entfernt. Die heutige Turmspitze, die nun dem Brand zum Opfer fiel, wurde 1860 im Zuge der grossen Restauration der Kathedrale aufgesetzt. Die 96 Meter hohe Spitze bestand aus etwa 500 Tonnen Holz und 250 Tonnen Blei.
Im Hahn, der auf der Turmspitze thronte, befanden sich drei Reliquien: ein Stück der Dornenkrone, eine Reliquie des heiligen Dionysius und eine der heiligen Genoveva.
Das Balkenwerk des Dachstuhls, auf französisch la fôret («der Wald») genannt, wurde beim Brand vollkommen zerstört. Es handelte sich um ein Meisterwerk mittelalterlicher Baukunst. Einige der Eichenbalken wurden beim Neubau des Dachstuhls 1260 wiederverwendet, sie stammten vermutlich aus dem Dachstuhl von 1160/70.