Ignazio Cassis plauderte aus dem Nähkästchen. Am 1. Februar sprach der Aussenminister an einer Veranstaltung der Berner Zeitung «Der Bund» zur Rolle der Schweiz angesichts des Kriegs in der Ukraine. Und erzählte «erstaunlich offen», dass die offizielle Schweiz im Vorfeld zahlreiche Warnungen der USA vor einem russischen Angriff in den Wind geschlagen hatte.
Seit Dezember 2021 hätten die Amerikaner hinter den Kulissen wiederholt gewarnt. Der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine war in vollem Gang. Sie hätten auch ein genaues Datum genannt, so Cassis. Als kein Einmarsch erfolgte, seien die Schweiz und alle europäischen Staaten überzeugt gewesen, dass nichts passieren werde.
«Im Nachhinein ist man immer viel klüger», gab Cassis, der vor einem Jahr Bundespräsident war, zu. Denn zehn Tage später gab Wladimir Putin den Angriffsbefehl. Die USA, die offenbar über erstklassige Quellen im russischen Machtapparat verfügten, hatten mit ihren Warnungen recht, die teilweise auch den Weg an die Öffentlichkeit gefunden hatten.
Es trifft zu, dass selbst in der Ukraine viele die drohende Invasion nicht wahrhaben wollten. Derart blauäugig, wie es Ignazio Cassis in Bern schilderte, waren die Europäer aber nicht. Bis kurz vor Kriegsbeginn gab es intensive Vermittlungsbemühungen. Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Emmanuel Macron reisten zu Putin nach Moskau.
Der Bundesrat aber wirkte vollkommen überrumpelt. Zu diesem Schluss kommt auch die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) von National- und Ständerat in ihrem Ende Januar veröffentlichten Jahresbericht 2022. Die Tragweite der Entwicklungen im Verlauf der Monate vor dem Angriff sei von den zuständigen Stellen des Bundes «nicht antizipiert» worden.
In der Kritik stehen vor allem der Sicherheitsausschuss (SiA) des Bundesrates, dem Verteidigungsministerin Viola Amherd, Aussenminister Ignazio Cassis und die damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter angehörten, sowie die Kerngruppe Sicherheit (KGSi), auf deren Einschätzungen sich die Entscheide der Landesregierung abstützen.
Ihr gehören von Amtes wegen unter anderem die Staatssekretärin im Aussendepartement sowie die Chefs des Bundesamts für Polizei und des Nachrichtendiensts an, nicht aber Armeechef Thomas Süssli, was die GPDel im letzten März in einem an mehrere Medien durchgesickerten und ungewöhnlich scharf formulierten Brief kritisiert hatte.
Tatsächlich wurde eine Grossoffensive Russlands zwecks (partieller) Annexion der Ukraine von der KGSi noch am 15. Februar – neun Tage vor der Invasion – in einer Lagebeurteilung für die SiA als unwahrscheinlichstes von drei Szenarien betrachtet. Am ehesten ging das Gremium von einer begrenzten militärischen Aktion zur Destabilisierung der Ukraine aus.
In den folgenden Tagen spitzte sich die Lage weiter zu. Am 21. Februar anerkannte Russland die «Unabhängigkeit» der Separatistengebiete im Donbass. Tags darauf beauftragte der Sicherheitsausschuss die Kerngruppe deshalb mit weiteren Abklärungen. Bevor sie den Auftrag ausgeführt hatte, begann der russischen Überfall auf die Ukraine.
Im erwähnten Brief machte die GPDel die beiden Organe entscheidend dafür verantwortlich, dass der Gesamtbundesrat «derart unvorbereitet auf diese Krise war». Im Jahresbericht tönt es diplomatischer. Die KGSi habe die Gefahr zwar frühzeitig erkannt, der zeitliche Vorsprung aber wurde «zu wenig genutzt, um die Handlungsfähigkeit des Bundesrats zu stärken».
Als es am 24. Februar um 4 Uhr so weit war, wirkten die Europäer erneut besser vorbereitet. Die Europäische Union beschloss ein erstes von mehreren Sanktionspaketen, das in erster Linie auf die russische Zentralbank und die Oligarchen zielte. Ignazio Cassis berief für 11 Uhr eine Sondersitzung des Bundesrats ein, doch ausser Empörung resultierte wenig.
An einer Medienkonferenz kritisierte er die russische Aggression: «Heute ist ein trauriger Tag.» Eigene Sanktionen aber wolle der Bundesrat nicht ergreifen, sondern nur verhindern, dass die EU-Massnahmen via die Schweiz umgangen werden könnten. Danach verschwand der Bundespräsident und überliess die Bühne den Fachexperten des Bundes.
Diese aber wussten selber nicht, was der Bundesrat genau entschieden hatte. Entsprechend hilflos wirkten ihre Antworten auf die Fragen der irritierten Bundeshausmedien. Es war ein in mancher Hinsicht denkwürdiger Anlass, der einmal mehr den Eindruck erweckte, die Schweiz wolle sich hinter ihrer Neutralität wegducken und die Krise möglichst aussitzen.
Die Reaktion der Parteien war entsprechend heftig. «Enttäuschender Nicht-Entscheid und Nicht-Auftritt des Bundesrats», twitterte Mitte-Präsident Gerhard Pfister, der sich in der Folge zum vehementesten Fürsprecher der Ukraine in Bern entwickelte. Einzig die SVP lehnte in gewohnter Manier die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland ab.
Today, @SwissMFAStatSec @LiviaLeu and I discussed Russia’s premeditated, unprovoked, and unjustified attack on Ukraine. We pledged to hold Russia accountable for disregarding international law and violating Ukraine’s sovereignty and territorial integrity. https://t.co/hITeIIydKB
— Wendy R. Sherman (@DeputySecState) February 26, 2022
Im Ausland hatte man das Lavieren der Schweiz an jenem Donnerstag vor einem Jahr durchaus zur Kenntnis genommen. Am Samstag telefonierte die stellvertretende US-Aussenministerin Wendy Sherman mit Staatssekretärin Livia Leu und veröffentlichte dazu eine kurze Mitteilung. Es war ein offenkundiges Powerplay aus Washington.
Am Sonntag nahm Karin Keller-Sutter als Vertreterin des Schengen-Mitglieds Schweiz an einem ausserordentlichen Treffen der EU-Justiz- und -Innenminister in Brüssel teil. Vor der Sitzung erklärte sie, dass sie persönlich eine Verschärfung der Schweizer Massnahmen gegenüber Russland befürworte. Offenbar ahnte sie, dass sie unter Druck kommen würde.
Am Sonntagabend schliesslich bereitete Bundespräsident Cassis in der Tagesschau des Westschweizer Fernsehens die Öffentlichkeit schonend darauf vor, dass der Bundesrat an einer weiteren Sitzung am Montag wohl härtere Massnahmen beschliessen werde. Am Ende hatte er keine andere Wahl, als die EU-Sanktionen vollumfänglich zu übernehmen.
Erneut gab es eine Medienkonferenz, an der ausgerechnet die Mitglieder des Sicherheitsausschusses (Amherd, Cassis, Keller-Sutter) auftraten, die zuvor die Gefahr nicht wahrhaben wollten. Auch in der Folge hinterliess der Bundesrat nicht den Eindruck, auf der Höhe der Herausforderung speziell für die Schweizer Neutralität zu sein.
Das betrifft die Weigerung, anderen Ländern die Weitergabe von Schweizer Waffen und Munition an die Ukraine zu erlauben. Es betrifft aber auch die Konfiszierung von russischen Vermögenswerten zum Wiederaufbau der Ukraine. Sie würde gegen die Verfassung und internationale Verpflichtungen verstossen, hiess es in einer Mitteilung vom Mittwoch.
Streng formaljuristisch mag die Position der Schweiz bei diesen Themen berechtigt sein. Ob sie sie halten kann, ist mehr als fraglich. Ignazio Cassis gab im Januar in einem Interview am Rande des WEF in Davos zu, dass es in der Frage der russischen Vermögen «international Druck» gebe, dass sich alle Staaten daran beteiligen, «also auch wir».
«Neutralität ist nicht Gleichgültigkeit», hatte der Aussenminister bei seinem Auftritt in Bern betont. Es ist die bekannte Floskel, die er in den vergangenen zwölf Monaten immer und immer wieder verwendet hat. Neutralität darf aber auch keine Ausrede dafür sein, dass sich der Bundesrat von internationalen Krisen immer wieder überrumpeln lässt.
Wir waren im 2 WK nicht neutral, siehe Bergier Bericht.
Möchte ich das strategische Konzept der Schweizer Neutralität?
Ja.
Sich dahinter verstecken wenn ein europäisches Land angegriffen wird?
Nein.
Bundesrat Cassis 2022
Stimmt, Neutralität heisst PFRÜNDE sichern, sich die Oligarchen in der Schweiz warmhalten, das Vermögen der Oligarchen bestmöglich in der Schweiz zu verstecken.
Neualität heisst, den Ukrainern ein paar abgelaufene Kekse aus der Kaserne in Zweisimmen zu schicken, und keine einzige Patrone für den Freiheitskampf zu schicken.
Die SVP ist Statthalter dieser Politik.