In Europa herrscht Krieg. In den frühen Morgenstunden des Donnerstag hat Russland das Nachbarland Ukraine überfallen, einen souveränen, international anerkannten Staat. Es ist die Rückkehr einer brutalen Machtpolitik, die viele für überwunden hielten. Die Schweiz kann sich dem nicht entziehen. Am Vormittag traf sich der Bundesrat zu einer Sondersitzung.
Gegen 16 Uhr trat Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis schliesslich vor die Medien. Sein Statement bestand primär aus einer Aneinanderreihung von Floskeln («trauriger Tag», «aufs Schärfste»). Danach machte er sich davon, ohne sich den Fragen der Medien zu stellen. Eine Krisensitzung der OSZE lieferte ihm den perfekten Vorwand.
«Neutralität ist nicht Gleichgültigkeit», hatte Cassis betont. Für das Thema Sanktionen gilt dieser Vorsatz offenbar nicht. Die gewundenen Ausführungen der Fachexperten des Bundes waren peinlich bis zur Farce. Die Quintessenz lautet: Die Schweiz prüft, wie weit sie sich an die Massnahmen der EU «anlehnen» will. Aber eigene Sanktionen gegen Russland? Njet.
Formaljuristisch «versteckt» sich der Bund hinter dem Embargogesetz. Dieses sei «ein Nachvollzugsgesetz», erklärte Staatssekretärin Livia Leu. Und auch das beziehe sich in erster Linie auf Strafmassnahmen der Europäischen Union. Sanktionen der USA übernehme die Schweiz «nie», betonte Leu. Folglich stehe es auch in diesem Fall nicht zur Debatte.
Es trifft zu, für neutrale Staaten wie die Schweiz ist es heikel, in eigener Regie Sanktionen zu ergreifen. Sie exponieren sich, und es besteht die Gefahr von Interessenkonflikten. Konkret verwies Livia Leu auf das Schutzmachtmandat zwischen Russland und Georgien. Es könnte die Schweiz bei Massnahmen gegen Moskau in eine schwierige Lage bringen.
Aber ist die eine Rechtfertigung für das leisetreterische, duckmäuserische Vorgehen?
Die Parteien jedenfalls zeigten unerwartet klare Kante, ausser die SVP. Sie forderten praktisch unisono, dass die Schweiz die EU-Sanktionen übernimmt und nicht nur ihre Umgehung verhindert. «Das entschiedene Entgegentreten gegen einen Rechtsbrecher hat hier Vorrang vor kurzfristigen wirtschaftlichen Überlegungen», betonte die FDP.
Deutlich äusserte sich auch die Mitte, die früher berüchtigt dafür war, sich bei heiklen Themen wegzuducken. «Nur die Umgehung von Sanktionen zu verhindern, reicht seit der offenen kriegerischen Eskalation aus Sicht der Mitte nicht mehr», heisst es in ihrer Mitteilung. Parteipräsident Gerhard Pfister liess sich mit einer klaren Ansage zitieren:
Die Schweiz nimmt «bei Geldsendungen von Individuen in Russland ins Ausland seit Jahren die Spitzenposition ein», so die NZZ. Sie liegt noch vor anderen beliebten Destinationen wie Grossbritannien oder Zypern. Genau diese Gelder von Privatpersonen aber will die Schweiz vorerst nicht einfrieren.
Viele russische Firmen vor allem aus dem Rohstoffsektor haben sich in der Schweiz angesiedelt, vorab in Genf und Zug, Pfisters Heimatkanton. Der internationale Druck auf Bern könnte zunehmen, warnt die NZZ. Anzeichen gibt es. Die USA wollen die in Zug ansässige Betreiberfirma der Gaspipeline Nord Stream 2 mit Sanktionen belegen.
Die Aargauer Mitte-Nationalrätin Marianne Binder erinnerte auf Twitter daran, «dass unser neutrales Land seine Existenz denen verdankt, die gegen die Diktatur des Dritten Reiches gekämpft haben und dann auch keine neue Diktatur eingerichtet haben in den ‹befreiten› Gebieten». Allerdings darf man dabei einen Aspekt nicht ausblenden.
Man kann ja schon die Neutralität beschwören, sollte aber nicht vergessen, dass unser neutrales Land seine Existenz denen verdankt, die gegen die Diktatur des Dritten Reiches gekämpft haben und dann auch keine neue Diktatur eingerichtet haben in den „befreiten“ Gebieten.
— Marianne Binder (@BinderMarianne) February 24, 2022
Während die USA und Grossbritannien, auf die Binder in ihrem Tweet anspielt, gegen das Dritte Reich gekämpft und einen hohen Blutzoll entrichtet hatten, machte die verschonte Schweiz unter dem Deckmantel der Neutralität gute Geschäfte mit den Nazis. Am Kriegsende war sie aus Sicht der Alliierten deshalb eine schäbige Kriegsgewinnlerin.
Angesichts der wirtschaftlichen Verstrickungen mit Russland droht der Schweiz diese Etikettierung erneut. Ein «Nebelspalter»-Redaktor warnte an der Medienkonferenz vor einem drohenden Reputationsverlust, auch für die Guten Dienste. Diese Gefahr besteht, weil die Schweiz offenbar nicht gewillt ist, aus der Geschichte zu lernen.
Sie kann und will Corona nicht. Sie kann und will EU Rahmenabkommen nicht. Und Krieg in Europa kann sie dann natürlich erst recht nicht.