Als ein Sportler aus der damaligen DDR in den 1970er Jahren an einem bedeutenden Wettkampf in der Schweiz teilnehmen wollte, durfte – oder musste – er im Vorfeld einen Vortrag halten mit dem Titel «Die verlogene Neutralität der kapitalistischen Schweiz». Nach der Ankunft im Westen setzte er sich ab in die BRD – zu gross waren die Verlockungen von Freiheit und Kapitalismus.
Um wen es sich handelte und um welche Sportart, weiss ich beim besten Willen nicht mehr. Aber der Titel des Vortrags ist mir in lebhafter Erinnerung. Denn «verlogene Neutralität» zielt ins Selbstverständnis unseres Landes. In der Schweiz ist kaum etwas so tief verankert wie die Neutralität. 96 Prozent der Stimmberechtigten befürworten sie in der ETH-Sicherheitsstudie 2019.
Die Maxime «Mischt Euch nicht in fremde Händel!» ist zu einem Dogma der Schweizer Politik geworden. Zugeschrieben wird sie unserem Nationalheiligen Niklaus von Flüe. Ob er sie formuliert hat, ist umstritten. Sie wurde ihm erst nach seinem Tod 1487 zugeschrieben. Ihre Nachwirkung aber ist enorm. Die Schweiz soll humanitäre Hilfe und «gute Dienste» anbieten, mehr aber nicht.
In der Realpolitik aber hat die Schweiz ihre Neutralität stets biegsam interpretiert. Der Titel des besagten Vortrags war in erster Linie Ostblock-Propaganda, doch aus dieser Perspektive war die Neutralität tatsächlich «verlogen». In den Manövern und Übungen der Schweizer Armee war der Feind stets rot, er kam aus dem Osten und griff mit MiG-Kampfflugzeugen und T-72-Panzern an.
Neutralitätspolitisch «korrekte» Szenarien, in denen der Angreifer aus dem Westen gekommen wäre, wurden während des Kalten Kriegs nicht in Erwägung gezogen. Die Schweiz war nicht Mitglied der NATO, dennoch gehörte sie auch militärisch und geheimdienstlich zum Westen.
Daran erinnert die Affäre um die Zuger Firma Crypto AG, die sich im Besitz des deutschen BND und der amerikanischen CIA befand und unter dem Deckmantel der schweizerischen Neutralität manipulierte Chiffriermaschinen an mehr als 100 Länder verkauft hat. Letzte Woche wurde das ganze Ausmass der nicht ganz neuen Geschichte unter dem Namen Cryptoleaks publik gemacht.
An der Recherche beteiligt war neben ZDF und «Washington Post» auch die SRF-«Rundschau». Doch während das Interesse im Ausland relativ rasch verebbte und man sich allenfalls für die gelungene Spionageaktion auf die Schulter klopfte, herrscht in der Schweiz helle Aufregung. Denn Cryptoleaks erschüttert einmal mehr unser Verständnis von Neutralität.
Nun wird hektisch nach Verantwortlichen gesucht: Welcher Bundesrat war informiert? Dabei ist diese Frage eigentlich zweitrangig. Entscheidend ist, dass die offizielle Schweiz über diesen Neutralitätsbruch vermutlich Bescheid gewusst hat – zu viele Indizien sprechen dafür. Und dass sie ihn in Kauf nahm, weil sie auf die Zusammenarbeit mit BND und CIA angewiesen war.
«Die Schweiz kann ohne fremde Länder kaum Geheiminformationen beschaffen. Wie auch? Wir führen keine militärischen Operationen im Ausland, wir haben keine Spionagesatelliten im All, und Leute wie James Bond werden bei uns auch nicht ausgebildet», sagte der Historiker Sacha Zala im Interview mit der «Schweiz am Wochenende». Da schaut man besser nicht zu genau hin.
Letztlich kristallisiert sich hier das Dilemma der Schweiz heraus. Sie ist kein beliebiger Kleinstaat, sondern hat zahlreiche internationale Interessen, politische und vor allem wirtschaftliche. Diese können schnell mit der Neutralität kollidieren. Nicht selten wird sie mutwillig verletzt, sei es zum Selbstschutz oder aus rein ideologischen Gründen. Beispiele dafür gibt es einige.
Im Ersten Weltkrieg war die Schweiz offiziell neutral. Die Armeeführung um General Ulrich Wille sympathisierte jedoch offen mit den Deutschen. Dies führte zur «Obersten-Affäre». Zwei hohe Offiziere im militärischen Nachrichtendienst reichten ihre Erkenntnisse systematisch an die deutschen und österreichischen Militärattachés weiter. Sie wurden mit 20 Tagen Arrest «bestraft».
Noch weiter ging die Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Sie bemühte sich um ein gutes Einvernehmen mit den Nazis, etwa indem sie den Eisenbahntunnel durch den Gotthard für Materialtransporte zwischen Deutschland und Italien offen hielt. Die Nationalbank kaufte zudem in den besetzten Ländern geraubtes Gold und verschaffte dem Nazi-Regime dadurch dringend benötigte Devisen.
Die Schweiz handelte aus Selbstschutz, doch nach dem Krieg verwedelte sie die Kollaboration, indem sie den Aktivdienst und das Réduit überhöhte. Im Kalten Krieg kam sie damit durch, nach dessen Ende fiel der Hammer mit der Affäre um die Konten von Holocaust-Opfern dafür umso härter. Die Schweiz sah sich gezwungen, ihre Weltkriegs-Vergangenheit aufzuarbeiten.
Ein weiteres, besonders trübes Beispiel für die «flexible» Anwendung der Neutralität war der Umgang der Schweiz mit dem Apartheid-Regime in Südafrika. Als der schwarze Freiheitsheld Nelson Mandela wenige Monate nach seiner Freilassung vor 30 Jahren die Schweiz besuchte, dankte er ihr an einer Medienkonferenz für die Einhaltung der Sanktionen gegen das Land.
Die Reaktion war betretenes Schweigen. Die Schweiz hatte zwar 1963 ein – sehr löchriges – Waffenembargo gegen Südafrika verhängt. Die von der UNO verhängten Sanktionen aber hielt sie nie ein. Sie konnte sich damit herausreden, dass sie damals noch kein UNO-Mitglied war. Weite Teile der bürgerlichen Schweiz aber sympathisierten heimlich bis offen mit den Rassisten am Kap.
Die Neutralität diente ihnen als perfekter Schutzschild, um weiterhin Geschäfte mit Südafrika zu machen. «Handel war wichtiger als Menschenrechte», lautete das Fazit einer 2005 veröffentlichten Studie des Nationalfonds. Aus Angst vor Sammelklagen von Apartheid-Opfern in den USA verlängerte der Bundesrat 2003 die Sperrfrist für die entsprechenden Akten. 2014 hob er sie auf.
Heutzutage ist es für die Schweiz immer schwieriger, sich hinter der Neutralität zu «verstecken». Das zeigt der Eiertanz um die Sanktionen von EU und USA gegen Russland nach der Annexion der ukrainischen Krim 2014. Der Bundesrat schloss sich nicht an, ergriff jedoch Massnahmen, damit die Sanktionen «nicht über das schweizerische Staatsgebiet umgangen werden können».
«Wenn draussen ein rauer Wind weht, zieht sich die Schweiz in ihre geliebte Kuschel-Neutralität zurück. Das Verständnis dafür aber nimmt in der Welt rapide ab. Als wirtschaftlich hoch globalisiertes und vernetztes Land kann sie sich politisch nicht einfach unsichtbar machen», schrieb ich vor sechs Jahren. Tatsächlich wurde die Schweiz für ihre Haltung teilweise kritisiert.
Weitere Konflikte sind absehbar, zum Beispiel im Umgang mit China. Die USA fahren gegenüber Peking eine immer härtere Gangart. Das zeigten die Auftritte von Aussenminister Mike Pompeo und Oppositionsführerin Nancy Pelosi an der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende. Im Visier haben sie nicht zuletzt den Telekomriesen Huawei, der in Europa am Aufbau des 5G-Netzes beteiligt ist.
Selbst enge Verbündete wie Grossbritannien geraten deshalb unter Druck aus Washington. In der Schweiz ist Huawei ebenfalls aktiv. Einmal mehr aber zieht der Bundesrat den Kopf ein und hofft, das Gewitter möge irgendwie an uns vorüberziehen. Doch die Schweiz hat ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit China stark ausgebaut. Das könnte irgendwann zum Bumerang werden.
«Der Neutralitätsbegriff ist heute für mich so leer wie noch nie», sagte der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves 2014 als Reaktion auf die Nicht-Sanktionen der Schweiz gegen Russland. Selbst ihre «guten Dienste» sind weniger gefragt. Als internationale Vermittlerin hat ihr Norwegen den Rang abgelaufen. Die Skandinavier sind Mitglied der NATO seit ihrer Gründung 1949.
Ein international so stark vernetztes Land wie die Schweiz kann gar nicht «neutral» sein. Es ist Zeit, dass wir uns dieser unbequemen Wahrheit stellen – so innig wir die Neutralität auch lieben. Wir müssen sie nicht abschaffen, aber uns von ihrer dogmatischen Überhöhung lösen. Dann können wir mit Enthüllungen wie Cryptoleaks gelassener umgehen. Sie sind part of the game.
Der in gewissen hysterischen Medienkommentaren heraufbeschworene Imageschaden für die Schweiz hält sich ohnehin in Grenzen. Denn selbst jene Länder, die bei Crypto im Vertrauen auf die Neutralität eingekauft haben, wissen genau, wie der geheimdienstliche Hase läuft.